Wer es bisher noch nicht gemerkt hatte, dem sollte es in den letzten Wochen, in denen die Ägypter gegen ihren Diktator aufgestanden sind, endgültig klar geworden sein: Wir leben in großen Zeiten. Ein Kennzeichen großer Zeiten ist immer und überall überraschender, schneller, ja brutaler Wandel gewesen. Große Zeiten sind aber immer auch Zeiten, die die Spreu vom Weizen trennen. Gnadenlos urteilt später die Geschichte über diejenigen, die in der Krise Verantwortung getragen haben und wie sie mit dieser Verantwortung umgegangen sind.
Die Europäische Union trägt Verantwortung beim Aufstand der Araber gegen ihre langjährigen diktatorischen Regime. Erstens, weil die europäischen Staaten ebenso wie die EU, diese Regime von der Atlantikküste bis an die Grenze des Iran immer unterstützt haben, solange diese nicht gegen die Interessen der EU und ihrer Mitgliedstaaten handelten. Muhammad al Gaddafi und Saddam Hussein sind dafür die besten Beispiele. Erst als sie nicht nur ihre eigenen Landsleute unterdrückten, sondern auch den Westen direkt mittels Attentaten, der Sprengung von zivilen Flugzeugen (Lockerbie, aber höchstwahrscheinlich auch 1989 ein Flug von N’Djamena nach Paris) und dem Angriff auf Verbündete (Kuwait) direkt attackierten, wurde ihnen die Unterstützung entzogen. Gaddafi konnte sie sogar, Besserung gelobend, wiedergewinnen. Öl ist ein starkes Argument.
Zweitens trägt die EU Verantwortung aus der kolonialen Vergangenheit einiger ihrer Mitgliedstaaten, die, wenn auch unterschiedlich lang, die arabischen Länder beherrscht haben. Drittens trägt sie Verantwortung, weil das Wohlergehen ihrer unmittelbaren Nachbarn, die alle über eine rasch wachsende und sehr junge Bevölkerung verfügen, langfristig über ihren eigenen Frieden und Wohlstand mitentscheidet. Viertens trägt sie Verantwortung, weil sie als einer von zwei Pfeilern der westlichen Kultur ein Symbol für Freiheit und Demokratie ist und dies auch immer wieder lautstark auf der internationalen Bühne vertreten hat und vertritt.
Ist die EU dieser vierfachen Verantwortung seit dem 25. Januar, dem Tag der ersten großen Demonstra-tion in Kairo gerecht geworden? Immer wieder wurde sie, ebenso wie die USA, kritisiert, dass sie zu zögerlich auf den Aufstand in Ägypten reagiere und die legitimen Forderungen der Demonstranten in den ägyptischen Städten nicht unterstütze. Ist dieser Vorwurf berechtigt? Am 28. Januar fordert Catherine Ashton, Hohe EU-Vertreterin für Außen und Sicherheitspolitik, alle ägyptischen Akteure zur Besonnenheit auf. Sie ruft die ägyptische Regierung auf, schnellstens einen konstruktiven und friedlichen Weg zu beschreiten, um „auf die legitimen Erwartungen der Ägypter auf demokratische und sozio-ökonomische Reformen“ zu reagieren. Vor dem Treffen der EU-Außenminister am 31. Januar wiederholt sie den Aufruf zur Besonnenheit und erklärt ihre Überzeugung, dass es wichtig sei, dass die EU bereit sein müsse, Ägypten jetzt und in Zukunft zu unterstützen. Und sie vergisst auch nicht, am Ende noch einmal auf die „legitimen Klagen“ des ägyptischen Volkes hinzuweisen und auf ihre „Hoffnungen für eine gerechte und bessere Zukunft“, auf die die ägyptischen Autoritäten eine schnelle und friedliche Antwort geben müssten. Die EU-Außenminister erklären nach ihrem Treffen das Gleiche, nur etwas ausgedehnter. Der Europäische Gipfel am 4. Februar schafft es auch nicht, deutlichere Akzente zu setzen.
Auffällig an allen Äußerungen von Catherine Ashton und anderen europäischen Spitzenpolitikern ist die Tatsache, dass sich keiner auch nur ein einziges Mal direkt an die Menschen gewandt hat, die unter Einsatz ihres Lebens das Ende einer dreißigjährigen, brutalen Diktatur und die sofortige Absetzung des Diktators fordern. Nicht die Tatsache, dass weder der Friedensnobelpreisträger Barack Obama, noch die europäischen Politiker Hosni Mubarak öffentlich zum Rücktritt aufgefordert haben, ist das schlimmste Versagen des Westens und der EU, sondern die unglaubliche Distanz der europäischen Politiker zu denjenigen, die für die grundlegendsten und selbstverständlichsten Menschenrechte eintreten. Statt einer herzlichen Gratulation und offener Unterstützung der Freiheitskämpfer, stand und steht die Sorge um Ruhe und Stabilität immer an erster Stelle. Allein Angela Merkel hat in Erinnerung an die eigene revolutionäre Erfahrung auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt: „Wer wären wir denn, wenn wir nicht sagen würden, wir stehen auf der Seite dieser Menschen.“ Eine direkte Ansprache ist dieser Satz ebenfalls nicht.
Politiker verteidigen ihr Verhalten gemeinhin mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit von Realpolitik. Ein mitleidiges Lächeln für denjenigen, der an der Weisheit dieser Realpolitik zweifelt, ist meistens nicht allzu weit entfernt. Es gehe schließlich um den Frieden mit Israel und in letzter Konsequenz um dessen Existenz sowie, via Suezkanal, auch um eine sichere Energieversorgung, heißt es. Die Frage muss allerdings erlaubt sein, ob die selbsternannten Realpolitiker in großen Zeiten nicht gerade diejenigen sind, die den schnellen Veränderungen ewig hinterher hecheln, weil sie weder willens noch in der Lage sind, sich etwas anderes vorzustellen als den Status quo.
Der Preis dafür kann hoch sein. Europa hat sich durch sein Taktieren in den Augen der für ihre Freiheit kämpfenden Ägypter bis auf die Knochen blamiert. Seine Reaktionen in Tunesien, als Frankreich Ben Ali zuerst noch helfen wollte, den Aufstand eleganter, das heißt mit weniger Toten, niederzuschlagen, wird ebenfalls nicht so schnell vergessen werden. Der europäische Diskurs zu Freiheit und Demokratie muss den arabischen Demonstranten wie Hohn vorkommen. Vor allem dann, wenn sie den Kampf um ihre Freiheit am Ende doch noch verlieren sollten. Dass ausgerechnet der ehemalige Geheimdienstchef Omar Suleiman zum Favoriten Europas und der USA für einen friedlichen Übergang in Ägypten geworden ist, lässt nichts Gutes erhoffen.
Die EU braucht langfristig ein demokratisches, prosperierendes Arabien. Wie sehr, das zeigt gerade die aktuelle Angst der Herrschenden vor einem Kollaps der Region. Die Stunde des Aufstands der Bürger Ägyptens, hätte die Stunde des Schulterschlusses unter Demokraten sein müssen. Dazu ist es nicht gekommen. Die europäischen Realpolitiker haben versagt. Sie spielen damit einem Modell in die Hände, das gerade weltweit Furore macht: China. Dieses Land hat es bisher geschafft, Diktatur und wachsenden Wohlstand zu verbinden. Das muss nicht so bleiben, aber solange das der Kommunistischen Partei Chinas gelingt, wird ihre Herrschaft nicht leicht zu erschüttern sein. Am Ende mögen die Europäer in eine Situation wie die alten Griechen geraten: Mit dem Hellenismus haben sie den Kulturen rund um das Mittelmeer und sogar darüber hinaus ihren Stempel aufgedrückt. Geherrscht aber hat Rom mit seinen Legionen. In einer globalisierten Welt wird die Freiheit Europas nicht nur am Hindukusch verteidigt, wie die selbsternannten Realpolitiker nicht müde werden zu betonen, sondern viel stärker noch im Maghreb und im Maschrek.