Anblick einer luxemburgischen Landschaft im Regenschauer. „Eine erste fotografisch gezeichnete Linie zeigt eine klare, deutliche Horizontlinie, die sich durch das Blickfeld zieht und die Weite und Unendlichkeit australischer Gefilde suggeriert“, heißt es in einem Begleittext zu einem in jener luxemburgischen Landschaft drapierten Foto. Über allen Gipfeln ist Ruh’. Über allen Wipfeln regnet es. An diesem Montag. Ende April. Ein kühler Tag. Es nieselt, wie es auch schon am Sonntag schüttete und am Samstag goß. „Eine weitere Aufnahme besticht durch eine vertikal ausgerichtete Landschaftskomposition, deren Tiefe durch die Farbperspektive bedingt ist.“ Es ist grau. Alles ist grau. Frühlingsgrau. Das ist jenes Grau, das der tiefhängende Himmel über den Hügeln des Öslings von einem Frühjahrstag dem Tag gönnt, an dem lediglich verblühte Forsythien mit ihrem langweiligen Gelb – diesem grauenhaft langweiligen Gelb, diesem unkrauthaft-langweiligen Gelb und nur diesem Gelb – die Jahreszeit verraten. Wie dem himmeltiefen Grau kann man diesem Gelb kaum entrinnen. Es ist an jeder Straßenecke. In jedem Vorgarten. In Abgrenzung zum Nachbarn. In Anlehnung zum Vogelnestbau. Gelb. Gelb. Gelb. In wenigen Wochen wird das Forsythien-Gelb von Raps-Gelb abgelöst werden, das dann irgendwann in Sonnenblumen-Gelb übergeht. Die gibt es nun schon in ausgewählten, trendsetzenden Blumengeschäften zu kaufen.
Ob es in Clerf überhaupt ein Blumengeschäft gibt, ist Nebensache, denn der Laden hätte ohnehin geschlossen. Wegen Mittagspause. Oder ob des Montags. Oder ob anderer, besucherfeindlicher Geschäftszeiten. Es ist geschlossen. Nicht einmal ein Café – schwarz – liegt auf dem Weg. So bleiben der graue Himmel, die gelben Sträucher und ein dumpfes Weiß. Ja. Weiß. Betttuchweiß. „Die Töne sind facettenreich, sie erinnern an die Flora einer entlegenen, exotischen Region“, heißt es in dem Text zum Bild. Aber doch ist es nur „Clervaux. Cité de l’image.“ Also, Wanderer, kommst du nach Clerf, vergesse den Fotoapparat nicht. Es lässt sich herrlich knipsen. Bilder einer Bilderwelt.
„Die menschleere Kulisse weckt die Vorstellung einer ursprünglichen und authentischen Natur.“ Menschenleere. All. Überall. Eine Kreissäge kreischt im Hinterhof und im Wald jault eine Motorsäge auf. Irgendwo. Zeichen menschlicher Existenz an einem Montag. „Die Bilder sind derart intensiv, dass sie nicht nur Formen und Farben erstrahlen lassen, sondern offenbar auch Duft und Geschmack des dargestellten organischen Materials zu vermitteln vermögen.“ Zum ersten Mal drängt sich der Gedanke auf, wie Forsythien überhaupt riechen. Ob sie überhaupt duften. Die Australierin Sonja Braas hat in ihrer Heimat Landschaftsaufnahmen gemacht, die ohne gelbblühende Sträucher der mitteleuropäischen Flora auskommen. Die Bilder hängen jetzt großformatig in Clerf. An beinah jeder Straßenecke, an jeder Hauswand oder stehen in Vorgärten. „Die Vegetation scheint charakteristisch, sie überflutet den Vordergrund und lässt den Betrachter eintauchen in ein visuelles, nahezu sinnliches Erlebnis.“ Sie hängen in steinernen Bögen. Über grauem Asphalt. Am Montée de l’Église. Australische Landschaften auf luxemburgischen Mauerwerk. „Und dennoch sind es nur Bilder“.
Es besteht der Wunsch des Betrachtens und der Auseinandersetzung mit dem Werk und der Autorin. Doch heute sind zwei Autos davor geparkt. Was verwundert, denn es gibt in Laufnähe kein Geschäft, vielleicht aber doch einen Hinterhof mit Kreissägenakkustik oder ein Wald mit Motorsägenrhythmik. Es gibt keinen Anlass für parkende Autos. An dieser Stelle. Vor großformatigen Fotos. Australischer Landschaften.
Ein Montag im ländlichen Milieu mit zeitgenössischer Fotografie. Deren Betrachtung durch nationale Fuhrmaschinen erschwert wird. Zum Glück aber gibt es das Internet, das in schicken Fotos zeigt, wie es aussieht, wenn da kein Auto davor parkt. In der Straße. Bei der Kirche. Heute ist es anders, aber das mag am Montag liegen, am Regen, an der Trägheit des Wochenbeginns. Das Innere eines kunstzuparkenden Wagens ist unaufgeräumt. Die Fahrerin oder der Fahrer hat ein obsessives Verhältnis zu Salzstangen. Und Krümeln von Salzstangen. Am Rückspiegel des Autos baumelt der obligatorische Wunderbaum, dessen aufdringliches Aroma Erinnerungen provoziert. So könnten auch die Landschaften von Braas riechen. Oder Forsythien. Zum Glück erklärt das Internet, was man sehen könnte, hinter den Fahrzeugen mit den luxemburgischen Kennzeichen, und was das alles zu bedeuten hat: „In Zusammenhang mit der Ausstellung The Familiy of Man, welche einen direkten Einfluss auf die kulturelle und lokale Identität ausübt, wurde im Jahr 2004 das Projekt Clervaux – cité de l’image ins Leben gerufen. Clerf, die Stadt der Bilder, wird durch verschiedene zeitgenössische Projekte im Bereich Fotografie in Szene gesetzt. Zahlreiche Veranstaltungen – temporäre Ausstellungen oder thematische Wanderungen – werden organisiert und haben sich zum Ziel gesetzt die Rolle der zeitgenössischen Fotografie im künstlerischen, sozialen und ländlichen Milieu zu fördern.“
Die zeitgenössische Fotografie im künstlerischen, sozialen und vor allen Dingen ländlichen Milieu zu fördern, das klingt nach Fördergeldern der Europäischen Union, einem Telekolleg-Kursus zur Bedeutung von Kunst im öffentlichen Raum, vor allem aber nach einem ambitionierten Manifest über die Bedeutung von Momentaufnahmen für die Genese der Gesellschaft – im ländlichen Raum und nur dort: Das Wimmelbild-Manifest von Clerf.
Selbstredend hat dieses Manifest seinen kunst- und kulturhistorischen Anspruch, seinen Überbau: „Wie bereits René Magritte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erklärte, sind Wiedergabe und Realität zwei grundverschiedene Dinge. Die Diskrepanz zwischen beiden Welten offenbart die Fähigkeit eines jeden Bildes einen Dialog zu entfachen, der stärker auf Ideen denn auf echten Motiven beruht.“ Es schein noch kein Fotograf auf die Idee gekommen zu sein, Innenräumen von geparkten Fahrzeugen ein künstlerisches Denkmal zu setzen. Oder warum ein Betrachter eines Kunstwerks den Umweg übers Universum nehmen muss, um das zugeparkte Kunstwerk zu erkennen. Das Universum. Da ist es. „Während die reale Welt nicht in einem Augenschlag zu erfassen ist, sind Bilder im Alltag des Menschen allgegenwärtig und leicht zugänglich.“
An dieser werkerklärenden Stelle schlägt Clerf sich allerdings selbst. Der Eindrücke sind zu viele, als dass ein leichter Zugang sich öffnet und eine Auseinandersetzung sich ergibt. Es ist schlichtweg zu viel, zu bunt, zu prall, dann zu hoch, zu fern, zu nah, zu zugeparkt. Es wirkt, als habe sich die Stadt eine Sammlung an Pril-Blumen gegönnt, die nun die Einöde in den Ardennen aufhübschen muss, um dem Ort eine Daseinsberechtigung zu geben. Um zu zeigen, dass man Kunst kann, dass man Fotokunst besonders gut kann. Dass man in der Verwaltung mutig ist – und mit dem Konzept der Freiluftpräsentation ein gigantisches Wimmelbild geschaffen hat, in dem der Betrachter in einem Meer und Mehr und Viel-zu-viel an Eindrücken und Impulsen ertrinkt. Er verfängt sich in der Frage, ob er denn nun auch wirklich alle Fotos gesehen hat, oder ob nicht doch noch eines hinter dem Forsythien-Strauch unten in der Straße, hinter der Kurve übersehen hat. Hinter dem Ambulanzwagen der Altenpflege.
Und das alles im ländlichen Milieu. „Landschaft – das ist ein physischer Raum, dem eine ästhetische Finalität zugrunde gelegt wird.“ Ist es nun die Landschaft, die durch die Kunst determiniert wird, oder ist es die Kunst, die Landschaft auf eine Meta-Ebene hebt – bei den Hügeln von Clerf kein leichtes Unterfangen. In den Beschreibungen der Werke bemüht man sich um den theoretischen Überbau des Wimmelbild-Manifestos: „Im Alltag fällt es uns schwer, den Blick für die Landschaft zu öffnen. Letztere ist mental vorgefasst: Sie hat nichts Gewöhnliches, neigt zu Exotismus und existiert einzig und allein im Kontext von Abenteuer und Entdeckung (des Authentischen?), um den Betrachter vor eine Herausforderung zu stellen.“ Der Betrachter sucht nach Fehlern in den Fotos: Warum hängen Bilder bunter Häuser in einer Stadt, in der es keine bunten Häuser gibt? Das ist Exotismus. Pur. „Die Wahrnehmung der Landschaft und ihre Erfassung bestätigen die Überlegenheit des Menschen gegenüber der Natur. Ist es womöglich sogar ein Manifest der Freiheit?“ Das hängt davon ab, ob mit dem Terminus „ländlicher Raum“ ein sozialer oder geografischer oder demografischer oder grammatikalischer Begriff gemeint ist. Die Kunsttheoretiker der Stadt schweigen sich dazu aus. Es regnet noch immer.
Auch bei diesem Wetter kann man Clerf schön finden. Aber die Werke von Justine Blau oder Jessica Backhaus zeigen, dass es wesentlich spektakulärere Landschaften gibt. Mit hohen Bergen. Tiefen Tälern. Dramatischen Himmeln. Perfekten Farbspielen. Hochglänzend. Ohne Forsythien. „Die Herausforderung ist nicht länger physischer oder konkreter Natur, die Auffassung erfolgt zweidimensional und bewahrt dabei die Möglichkeit, das eigentliche Objekt der Analyse außen vor zu lassen: die Landschaft, wie sie wirklich ist.“ Da hängen nun diese Bilder und zeigen den Menschen im ländlichen Milieu die Natur an anderen Orten, wie sie wirklich ist, während man sich von der Natur am eigenen Ort abwendet, weil diese todsterbenslangweilig des Wegs kommt.
Landschaftsfotografie in Landschaft inszeniert mutet ein wenig an wie dieser Blick in die vermeintliche Unendlichkeit, der sich eröffnet, wenn man versucht ein Spiegelbild zu spiegeln. Der Kontrast zwischen idealer, idealisierter Landschaft und realem ländlichen Milieu bietet denn ein Panoptikum, das im Geschwindigkeitsbeschränkung überschreitenden Fahrstil eines jugendlichen Mitbürgers mit motoraufheulender Fanfare seine Grenzen und seine Endlichkeit aufgezeigt bekommt. „Die Fotografie konzipiert als Bildschöpferin eine virtuelle Realität, sie skizziert ein Paradigma, das bereits in all seiner Kraft existiert, bevor es konkrete Formen annimmt. Dieses Bewusstsein, oder vielmehr die Vorstellung, drückt jedweder Veränderung der Landschaft durch den Menschen ihren Stempel auf.“ Oder ihren Fahrstil. Ihre Verweildauer. Am Ende bleibt der Anblick eines Betttuchs auf einer Wäscheleine. Vergessen. Regennass. Schwer. Weiß. Surreal. Es hängt wie eine vergessene Leinwand für das künstlerische Schaffen im ländlichen Milieu. Und trotzdem mag man es minutenlang anstarren und im inneren Monolog ergründen, warum es dem Montag eine weiße Fläche bietet.
Der Betrachter wendet sich von der realen Kunst ab und betrachtet die virtuelle Kunst. Im Internet, das zeigt, wie schön das alles sein kann, wenn Schnee liegt und die Stadt Clerf die reduzierte Bühne für fotografische Auseinandersetzungen bietet, die im aufblühenden Frühjahr in einem Übermaß an Eindrücken, Impulsen und Farben ertrinken. „Diese Naturlandschaft ist nicht real, sie ist imaginär, Bild geworden – um in einem malerischen Stil zu erscheinen, den das menschliche Bewusstsein ihr zuschreibt. Sie in dieser Form zu erfassen, scheint am natürlichsten.“ Da hilft nicht einmal ein verregneter Montag. Da hilft nicht einmal ein tiefer Himmel über dem Ösling. Da hindern geparkte Autos, rasende Fahrzeuge, fehlt nur noch das Hupen eines durch die Ardennen taumelnden Eifelbäckers.
Tieferen Sinn und Bedeutung, Verständnis und Erklärung bringen dann Werkbeschreibungen aus dem virtuellen Sein, hier zusammengetragen als das Wimmelbild-Manifest von Clerf zur Diskussions- und Gestaltungsgrundlage für das soziale Milieu im ländlichen Raum. Die kunstsinnigen Menschen aus dem Norden Luxemburgs lassen die Frage offen, wie groß denn der Einfluss zeitgenössischer Fotografie auf das soziale Milieu im ländlichen Milieu ist. Martin Kippenberger hatte darauf schon Mitte der Achtzigerjahre eine Antwort, die abgewandelt Clerf helfen kann: „Photografiert ruhig weiter, aber parkt euch nicht zu!“