Das oberste Gebot in der Partei mit dem Meeressäuger als Wappentier heißt: nur keine Wellen schlagen. Daran hielt sich der Abgeordnete und Gemeinderat Théo Stendebach auch noch, als er sie verließ.
Zu Beginn der hauptstädtischen Gemeinderatssitzung am Montag bat er, wie angekündigt, ums Wort. In einem Brief vom 19. Juni habe er dem Bürgermeister seinen Austritt aus der DP-Fraktion für die Zeit "nach den großen Ferien" angekündigt. Diesen Schritt tue er "aus persönlichen Gründen", seine politischen Mandate wolle er behalten.
Bürgermeister Paul Helminger, ebenfalls DP, antwortete noch knapper, er nehme die Erklärung zur Kenntnis und achte sie. Dann ging er schon zum nächsten Punkt der Tagesordnung über und belehrte LSAP-Fraktionssprecher Marc Angel aggressiv über die Geschäftsordnung. Business as usual.
Sport- und Umweltschöffe Jean-Paul Rippinger eilte zu Stendebach und setzte sich scherzend neben den bisherigen Parteikollegen. Alle sollten gezeigt bekommen, dass bei der DP der Mensch im Mittelpunkt steht und von Streit in der Partei keine Rede sein kann.
Rippinger ist auch liberaler Fraktionssprecher im Parlament, Stendebach nicht bloß Gemeinderat, sondern auch Abgeordneter. Und wenn eine Regierungspartei im Laufe der Legislaturperiode unterwegs einen ihrer Deputierten verliert, macht das keinen guten Eindruck. Besonders wenn ihr oberstes Ziel ist, nur keine Wellen zu machen.
Da ist es auch nur ein schwacher Trost, dass solche Parteiaustritte von Abgeordneten in den besten Familien vorkommen. Seit der Spaltung der LSAP 1971, bei der die sozialistische Fraktion auf einen Schlag ein Drittel ihrer Deputierten verlor, war es bei der CSV Fernand Rau, der zum ADR überwechselte, bei der LSAP Jean Gremling, der sich selbstständig machte, sowie Françoise Kuffer, die vorübergehend die Partei verließ, beim ADR Josy Simon, der zur DP wechselte, bei den Grünen Jupp Weber, der sich selbstständig machte, bei der KPL André Hoffmann, der zur nei Lénk wechselte
Aber unabhängig von den guten und schlechten Gründen, hinterlassen solche Akte der Fahnenflucht immer ein wenig den Eindruck von Auflösungserscheinungen und Endzeitstimmung. Selbst wenn die Regierungsmehrheit nicht in Gefahr gerät: künftig wird sie nur noch von 33 statt 34 der 60 Abgeordneten gehalten.
Obwohl er im Parlament in der ersten Reihe sitzt, ist Théo Stendebach ein typischer Hinterbänkler. In die Kammer rutschte er erstmals 1994 für vier Monate nach, als Boy Konen krankheitsbedingt aufgeben musste, dann 1998 für etwas mehr als ein Jahr, als Carlo Meintz den Staatsrat vorzog, und schließlich 1999, als Anne Brasseur Ministerin wurde. So gut wie nie tritt Stendebach ans Rednerpult, hält er Reden, stellt er Gesetzentwürfe vor oder verteidigt er öffentlich irgendeinen politischen Standpunkt.
Politische Meinungsverschiedenheiten können es also nicht sein, die den ehemaligen Fußballprofi dazu bringen, sich ins parteipolitische Abseits zu manövrieren. Und über die "persönlichen Gründe", die er zusammen mit seiner Familie erörtert habe und die schließlich "das Fass zum Überlaufen" gebracht hätten, schweigt er sich lieber aus.
In seiner Partei ist man jedenfalls kaum überrascht. Denn in der Vergangenheit hatte Stendebach bereits wiederholt mit Austritt gedroht, ließ sich aber immer wieder umstimmen. Seine Parteikollegen fanden das nur begrenzt komisch und taten es zunehmend als durchsichtige Erpressungsversuche ab.
Der 66-jährige Rentner, der einen Campingplatz betrieben hatte, den er dann seiner Gemeinde verkaufte und danach in den Autohandel umstieg, soll vor einem Jahr schon erwogen haben, ganz aufzuhören. Und es sei nicht zuletzt das Verdienst seiner Parteipräsidentin und ehemaligen Bürgermeisterin Lydie Polfer gewesen, ihn immer wieder umzustimmen. Auf ihre unnachahmliche Weise versteht sie es, meuternde Parteisoldaten ins Gebet zu nehmen und von ihrer Unersetzlichkeit zu überzeugen, bis sie schwach werden und weitermarschieren. Oder Streithähne zur privaten Aussprache bei gutbürgerlicher Hausmannskost in ihre Stadtwohnung einzuladen. So dass auch im Fall Stendebach ganz optmistische Liberale daran glauben wollen, dass es Polfer bis zum Herbst noch einmal gelingen wird, das verlorene Schaf einzufangen.
Zu den Ursachen für Stendebachs Parteiaustritt scheint zu gehören, dass er besonders auf kommunaler Ebene seine Fähigkeiten oder zumindest seine Wahlresultate nur ungenügend von seiner Partei honoriert meint. Und dass der Sozialamtspräsident sich immer wieder bei der Besetzung diverser Gremien übergangen fühlte - zuletzt für die Verwaltung des Centre hospitalier. Daneben empfand er sich aber auch als ein Opfer der veränderten liberalen Herrschaftsform in der Hauptstadt.
Der langjährige Torwart der Bonneweger Aris ist ein Lokalpolitiker der alten Schule, der, je nach Standpunkt, auf Bürgernähe beziehungsweise Klientelismus setzt. Das funktionierte so lange, wie er im Kontakt mit "seinen" Wählern den Eindruck aufrechterhalten konnte, dass er nicht nur auf sie hörte, sondern auch in der Lage war, ihre oft bescheidenen Wünsche in die Tat umzusetzten. Unter der nach demselben Prinzip funktionierenden Bürgermeisterin Polfer war es ihm noch möglich, jeden Geschäftsmann, Rentner oder Gemeindearbeiter des Viertels zu beruhigen: "Ech maachen Iech dat an d'Rei!" Meist genügte ein Anruf, und die Bürgermeisterin setzte einen Gemeindetechniker in Bewegung, um die Welt in Bonneweg wieder in Ordnung zu bringen.
Doch Bürgermeister Paul Helminger, dem eher der Ruf des unbeugsamen Gemeindemanagers vorausgeht, scheint weniger für diese Form von Trottuarspolitik zugänglich. So dass Stendebach in seinem Viertel zur Machtlosigkeit verurteilt wird, seit sein direkter Draht zum Himmel oder zumindest zum Knuedler unterbrochen ist. Schlimmer noch: im Streit um das gebührenpflichtige Parken vor der Haustür und um soziale Anlaufstellen für Obdachlose, Prostituierte und Drogenabhängige muss sich Stendebach zunehmend den geballten Zorn Bonneweger DP-Wähler anhören, die sich ebenso von der Gemeindeführung im Stich gelassen fühlen wie er selbst.
Wie hier Lokalpolitik in Nationalpolitik umschlägt und die DP dadurch sogar einen Abgeordneten verliert, erscheint nur auf den ersten Blick als Dorfposse. Denn dass für die Partei viel mehr auf dem Spiel steht, zeigt die vor einem Monat vom Tageblatt veröffentlichte Wählerumfrage. Die Marktforschungsfirma ILReS bescheinigte der DP nämlich einen Rückgang von 30,03 auf 23,08 Prozent im Zentrumsbezirk. Was ihr schlechtestes Ergebnis seit 40 Jahren wäre.
Für die DP käme dies aber eine Katastrophe gleich. Denn sie gewinnt seit Jahrzehnten mit schöner Regelmäßigkeit die Hälfte ihrer Parlamentsmandate im Zentrum. So dass die ILReS einen Rückgang von 15 auf elf Sitze vorrechnete, was einer Wahlschlappe wie derjenigen der LSAP 1999 entspräche.
Nach außen glaubt die Partei natürlich nicht an solche Umfrageergebnisse und weist darauf hin, dass niemand sage könne, wie viele Panaschierer der DP Stimmen geben, solange niemand die Kandidaten kenne. Aber nach innen hat sie bereits einen Schuldigen: Bürgermeister Helminger und seine Kommunalpolitik in der Hauptstadt.
Vielleicht war es mehr als ein Zufall, dass Théo Stendebach seinen Parteiaustritt nicht nur kurz nach dem verheerenden ILReS-Ergebnis bekannt gab, sondern auch am Vorabend der neuen Parkplatzordnung in der Hauptstadt. Und die DP ist sich einig, dass insbesondere die Verkehrspolitik der Gemeinde, wenn nicht ein politischer Fehler, so zumindest ein "Kommunikationsdesaster" sei. Seit die entlegenste Sackgasse am Stadtrand mit mindestens zwei Parkscheinautomaten ausgestattet und so Parkraumnot und Gebührenpflicht sogar auf die Nachbargemeinden, in die Gewerbezonen und selbst auf die Privatparkplätze von Betrieben ausgeweitet wird, fürchten selbst eingefleischte DP-Parteigänger, dass sie nicht erst bei den Gemeindewahlen übernächstes Jahr, sondern schon bei den Parlamentswahlen nächstes Jahr für einen Mangel an Dialog und Transparenz die Zeche zahlen müssen.
So wird Parteipräsidentin Lydie Polfer immer wieder gedrängt, Kollegen Helminger zur Besinnung und zum Einlenken zu bringen, um die Wählergunst nicht weiter zu verscherzen. Doch selbst ihre regelmäßigen Interventionen am Knuedler stießen bisher weitgehend auf taube Ohren.
Für Helminger, der auch für das Ende des Jahres zu verabschiedende neue DP-Grundsatzprogramm verantwortlich ist, kann es nur ein schwacher Trost sein, dass die ILReS der DP Wahlverluste auch in allen anderen Bezirken vorrechnete. Wären an einem Frühlingssonntag Wahlen gewesen, hätte die DP im Süden und Osten die Stimmen wieder verloren, die sie 1999 hinzugewonnen hatte, im Ösling hätte sie sogar ein 30-Jahre-Tief erreicht.
So als würde die Partei nächstes Jahr wieder ein Opfer des Pendelprinzips, das bis zur 15-jährigen CSV/LSAP-Koalition jahrzehntelang die Koalitionspolitik beherrschte: Wahlen wurden veranstaltet, damit DP und LSAP sich alle fünf Jahre an der Seite der CSV ablösen konnten. Der begonnene Streit zwischen DP und LSAP um die Gunst von Premier Jean-Claude Juncker zeigt, dass bereits alle wieder das Prinzip verinnerlicht haben.