In diesen seit über einem Jahrhundert als schnelllebig bezeichneten Zeiten wechselt kaum etwas so schnell wie die Modesaisons für Minister. Stand die Saison 1999-2000 im Zeichen von Hurricane Mitch alias Arbeitsminister François Biltgen, dominiert in der aktuellen Saison unangefochten der "Naue" alias Carlo Wagner. Denn mit Ausnahme des begnadeten Selbstdarstellers Jean-Claude Juncker ist seit Monaten kein anderer Minister soviel in den Schlagzeilen wie der Gesundheits- und Sozialminister.
Dabei wirkt Wagner manchmal, als ob er durch Zufall in ein Amt hinein gerutscht sei, das ihm einige Nummern zu groß ist. Wenn er zu politisch brisanten Fragen wie Krankenversicherung, Spitalplan oder Rentenanpassungen spricht, tut er es mit der Leutseligkeit und Unbekümmertheit des Bürgermeisters einer 2300-Seelen-Gemeinde. Als entginge ihm der Unterschied zwischen der politischen Stellungnahme eines Ministers und einer Gelegenheitsansprache zur Fahnenweihe der freiwilligen Feuerwehr. Als wüsste er nicht, dass ein Regierungsmitglied in einer offiziellen Unterredung Berufsverbänden nicht munter und unverbindlich alles versprechen kann, weil es um mehr geht als die Klagen eines lokalen Interessenvereins über einen verwitterten Bürgersteig.
Auch seine Laufbahn als Parlamentarier schien Wagner nicht für ein Ministeramt vorbestimmt zu haben. Ein Jahr, nachdem er Bürgermeister von Wormeldingen geworden war, erhielt er 1994 mehr Stimmen als der Abgeordnete Robert Gitzinger und zog als einziger Ostliberale in die Kammer ein. Gleichzeitig musste er aber nach nur vier Jahren sein Amt als Generalsekretär der DP aufgeben und zusammen mit Präsident Charles Goerens auf ziemlich unehrenhafte Weise die Zeche für die erneute Wahlniederlage zahlen.
Doch obwohl schon sein Vater, der Arzt Charles Wagner, ein Viertel Jahrhundert lang Ostabgeordneter war und im Bezirk damit wesentlich zur Popularität des Sohns beitrug, war Carlo Wagner als Abgeordneter die Karikatur des Hinterbänklers: Der Vizepräsident der Landwirtschafts- und Mittelstandsausschüsse meldete sich so gut wie nie zu Wort, und wenn, dann lediglich, um seine Wahlklientel aus dem Osten zu bedienen.
Im ganzen Sitzungsjahr 1994-1995 trat er zweimal ans Rednerpult und sprach zum Bau einer Moselbrücke und im Rahmen der Debatte über die Erklärung zur Lage der Nation zu Landwirtschaft und Weinbau. Auch während des gesamten Sitzungsjahrs 1995-1996 blieb er bis auf zwei Ausnahmen stumm: über den Merteter Hafen sprach er und im Rahmen der Haushaltsdebatten wieder über Landwirtschaft und Weinbau. In der Session 1996-1997 war er ausnahmsweise fünfmal zu hören, weil Gesetze über das Pflegeheim von Wasserbillig und das Kulturzentrum in Echternach verabschiedet wurden, daneben ergriff er zum Niederlassungsrecht, zum Weinbauertrag und im Rahmen einer Interpellation über Landwirtschaft und Weinbau das Wort. Dafür wurde er 1997-1998 wieder ruhiger, während des gesamten Sitzungsjahrs sprach er kurz zum Wohnungsbau, zum Pflegeheim und zum Lycée Joseph Bech in Grevenmacher. Im Vorwahljahr raffte er sich dann zu einem Gesetzesvorschlag auf, für staatliche Zuschüsse an die Ost-Müllhalde Muertendall, sprach aber auch zum Straflager Givenich und las nicht ohne Mühe die Rede eines Parteikollegen vor, der im letzten Augenblick verhindert war. Für seine derzeitigen Ministerressorts, Gesundheit und Soziales, zeigte Wagner jedenfalls während seiner ganzen Parlamentarierlaufbahn nicht die Spur eines Interesses.
Doch Wagners politische Karriere ist alles andere als improvisiert, seit er 1979, als gerade die linksliberale Koalition abgewählt wurde, von der Uni kam und in den Dienst der Privatkundenabteilung der Société européenne de banque eintrat, wo er es bis zum Direktionsrat brachte, ehe er Minister wurde.
Aus jenen frühen Jahren stammt auch die Bekanntschaft mit Regierungsrat Claude A. Hemmer, der eine entscheidende Rolle beim Sturz von LSAP-Gesundheitsminister Johny Lahure spielte. Nur hat sich die Beziehung inzwischen umgekehrt: war Wagner 1979 bei den Jungdemokraten Generalsekretär unter einem Präsident Hemmer, so verwaltet dieser heute in seinem Auftrag das Gesundheitsministerium.
Gezielt pflegt Wagner als wichtigstes politisches Kapital in dem sehr konservativen und personenbezogenen Ostbezirk seine lokale Bindung. So hänseln von Premier Jean-Claude Juncker bis zum Düdelinger Bürgermeister und Reha-Rivalen Mars di Bartolomeo alle den "Nauen", der demonstrativ seine Lokalmundart "schweetzt". Wobei immer der unausgesprochene Vorwurf mitschwingt, dass jede Abweichungen von der städtischen Koiné des Alzettetals ein Zeichen von lokaler Beschränktheit und ländlicher Rückständigkeit sei. Aber der frühere Wormeldinger Bürgermeister weiß, wie stark diese sprachliche Pflege des Lokalpatriotismus seine Wähler an ihn bindet.
Der lokalen Bindung dienlich ist auch, wie sichtlich wohl das um das Wiederaufleben des Wormeldinger Weinmarkts bemühte ehemalige Oberhaupt der größten Weinbaugemeinde des Landes sich auf Weinfesten fühlt - ein weiterer beliebter Gegenstand des Spotts zwischen Regierungsviertel und Krautmarkt, Kabarett und Feierkrop. Und zur perfekten politischen Laufbahn gehören natürlich auch ein paar Jahre Fußball in der Mannschaft des FC Koeppchen Wormer.
Dass der parlamentarische Hinterbänkler es nach nur einer Legislaturperiode zum Minister brachte, ist jedoch eine Folge der Quotenregelung bei der Regierungsbesetzung. Nachdem die DP im kleinsten Wahlbezirk des Landes ihren zweiten Sitz zurück gewonnen hatte, wollte sie den Wählern im Osten zeigen, dass sie ihnen auch in der Regierung Gehör verschaffe. Und Wagner war der Erstgewählte ...
Damit erinnert Wagner an Fernand Boden, der es in fast 22 Jahren zum dienstältesten Minister der CSV brachte, obwohl seine einzige erkennbare Qualifikation darin besteht, dass er im Osten gewählt wird. Doch im Gegensatz zum diskreten und farblosen Boden, der als politische Überlebensstrategie so wenig von sich reden macht, dass er von der breiten Öffentlichkeit gar nicht mehr zur Kenntnis genommen wird, meldet sich der schweigsame Parlamentarier Wagner als Minister plötzlich um so lieber und häufiger zu Wort.
Damit unterscheidet sich Wagner auch von seinen Parteikollegen in Regierung und Parlament. Während die Minister und Abgeordneten der DP nach 15-jähriger Durststrecke das Regieren genießen und jede Konfrontation mit dem Koalitionspartner vermeiden, stiehlt Wagner selbst dem sichtlich verärgerten Premier unbekümmert die Schau.
Gleich nach seinem Amtsantritt hatte Wagner in einer Unterredung mit dem angenehm überraschten OGB-L versprochen, dass das letzte Wort über Rentenerhöhungen noch nicht gesprochen sei. Was sich dann in wochenlangen Exegesen durch die Regierung als Missverständnis und wiederum auch nicht herausstellte.
Im April letzten Jahrs versprach Wagner eine Novelle der Invalidenrente, die bis heute nicht vorliegt. Im Oktober stellte er seinen Spitalplan vor, der einen Bettenabbau auf fünf pro Tausend, das Reha-Zentrum auf Kirchberg vorsieht und in Düdelingen das Staatslabor einrichten will.
Folglich wurde Wagner dafür verantwortlich gemacht, dass es bei der Verabschiedung des Krankenkassenhaushalts im November zu einer Kampfabstimmung kam, bei der die Gewerkschaften in die Minderheit versetzt wurden. Ihm wurde auch vorgeworfen, einen Warnstreik der Ärzte zu Allerheiligen nicht verhindert zu haben.
Im Dezember gab Jean-Claude Juncker zu verstehen, dass Wagner die Regierung irregeführt habe, als er keine juristischen Probleme bei der Änderung des Reha-Standorts sah, und gab ihm ein Woche Zeit, um Klarheit zu schaffen. Später wollte das niemand als Ultimatum verstanden haben.
Ein 58-Millionen-Kredit, den Wagner der Ärztevereinigung zur Reform des Bereitschaftsdienstes versprochen hatte, tauchte nie im Haushalt für 2001 auf, beziehungsweise verschwand daraus wieder auf wundersame Weise. Und bei seinem Neujahrsempfang kündigte Wagner dann die Liberalisierung der Apothekenzulassungen an und schätzte, dass Düdelingen auf das Staatslabor verzichte - was Juncker drei Tage später alles wieder in Abrede zu stellen versuchte, obwohl die Apothekenreform Teil des Koalitionsprogramms ist.
Doch Wagner scheint der geborene Teflon-Minister zu sein. Ganz gleich, ob sein eigener Premier ihn desavouiert, der soziale Dialog hoffnungslos verfahren ist oder die Opposition seinen Rücktritt zu fordern beginnt, er lächelt mit hochrotem Gesicht hinter seiner schief sitzenden Brille, hat das alles gar nicht so verstanden und will nicht nachtragend sein.
Und wenn Wagner allzu gerne als Lachnummer dargestellt wird, der aus Unbedarftheit von einem Fettnäpfchen ins andere springt, werden zwei Punkte gerne übersehen: Selbst wenn der Premier wiederholt seinen Minister lautstark auf dessen Platz verwies, war es am Ende eher Juncker, der falsch verstanden worden sein wollte, als dass Wagner einen Rückzieher machen musste. Und alle Ankündigungen und Projekte Wagners - von der Verringerung der Bettenzahl über die Ärztekonventionen bis zu den Apothekenzulassungen - fügen sich in eine ideologisch klare Linie der Liberalisierung des Gesundheitswesens.
Dass Wagner seiner Partei gleichzeitig ein größeres Image-Problem bereitet, ist eine andere Geschichte.