Die Dreyfus-Affäre bietet eine Menge filmisches Potenzial. Das muss sich auch Roman Polanski gedacht haben. Der Justizskandal, der die französische Politik und Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts tiefgreifend bewegte, betraf die Verurteilung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus im Jahre 1894 wegen mutmaßlichen Landesverrats. Der Filmtitel J’accuse…! bezieht sich auf den gleichnamigen offenen Brief des französischen Schriftstellers Émile Zola an Félix Faure, den Präsidenten der Französischen Republik, um diesen und die Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe der Dreyfus-Affäre zu informieren. Der Brief erschien am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore und löste einen großen politischen und gesellschaftlichen Skandal aus.
J’accuse wurde bei den Filmfestspielen von Venedig im Hauptwettbewerb gezeigt und gewann den Silbernen Löwen. Trotz oder gerade wegen dieses Erfolgs steht Regisseur Roman Polanski aber selbst im Zentrum einer erneuten schwerwiegenden Anschuldigung: Nachdem er bereits 1979 beschuldigt wurde, einem dreizehnjährigen Mädchen Drogen verabreicht und es dann vergewaltigt zu haben, ist es nun Model und Schauspielerin Valentine Monnier, die Polanski der Vergewaltigung bezichtigt.
Dies vorausgeschickt, geht freilich die implizite Herausforderung an Publikum und Kritik, vom Schöpfer ab und nur auf das Werk zu sehen. J’accuse erzählt die Geschichte aus der Perspektive des jungen Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin), der, nachdem er zum Leiter der Spionageabwehr ernannt wurde, feststellen wird, dass die Beweise gegen Capitaine Alfred Dreyfus (Louis Garrel) gefälscht wurden. So wird er nach und nach auf ein System aus Betrug und Korruption aufmerksam. Damit entzieht Polanski sich einerseits dem Vorwurf, sich selbst über die Figur des Dreyfus als verfolgte Unschuld zu inszenieren, andererseits kann er über die Figur des Picquart eine klassische Erzählung entwerfen, die sich zwischen Detektivfilm und Gerichtsdrama abspielt. Dass Polanski sich in den unterschiedlichsten Genres auskennt, ist unumstritten. Ob im Horrorfilm Rosemary’s Baby (1968) oder im Detektivfilm Chinatown (1974), der deutlich die Neo-Noir-Ästhetik und Themenwelt evoziert – Polanski ist ein routinierter Filmemacher.
Bereits in seinem Erstlingswerk Das Messer im Wasser (1962), der die polnische neue Welle miteinleitete, zeigt sich Polanskis Vorliebe für das Klaustrophobische, die er zumindest partiell in seinem neuen Film weiterführt: Da werden enge Interieurs gezeigt – ja, dieser Dreyfus ist nicht der einzige Gefangene, Picquarts dunkle Büroräume selbst werden aufgrund seines Loyalitätskonflikts zu Gefängnissen seines Inneren. In seiner pessimistischen Grundstimmung gibt Roman Polanski ein Sittengemälde der französischen Gesellschaft des fin de siècle wieder. Die Zeitepoche rekonstruiert er durch aufwändige Kostümarbeit, um daraus ein Spionage-Justiz-Drama zu machen, in dem Staatsapparat, Justiz und Militär in ihrem Machtmissbrauch so tief ineinandergreifen, dass eine Nation daran zu zerbrechen droht. Schon allein der Gerichtssaal ist hier nicht mehr der Ort der Wahrheitsfindung, sondern der Ort an dem sich die Kälte der Gesellschaft offenbart. Polanski erzählt von den undurchsichtigen Verstrickungen – bezeichnenderweise arbeitet er dann auch viel mit Überblendungen – , dem Fälschen von Beweisen und einem aufkommenden Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert, der vorausdeutend ist auf die Reichspogromnacht und mit Blick auf die Gegenwart freilich als Warnung steht.
Wo Polanski in Filmen wie Repulsion (1965) oder Le Locataire (1976) die Spannung über das Erleben der Innenwelten seiner Figuren erhöhte, da hält J’accuse den Zuschauer durch den Wechsel der Orte und Figuren auf Distanz. Eine Nähe zu diesen Menschen herzustellen, will nicht so recht gelingen: Oberst Picquart, Hauptmann Alfred Dreyfus oder die Militärs sind dafür zu sehr Funktionsträger, deren Individualität enge Grenzen gesetzt sind. Sie sind Exempel in einem System der korrupten Logik, das Staatsgehorsam über Wahrheit und Recht stellen. So sehr Polanski die Fehlbarkeit der Justiz anprangert, so sehr wird dieser Film momentan über seinen biographisch-polarisierenden Kontext gelesen, sodass J’accuse sich einer Doppeldeutigkeit nur schwerlich entziehen kann.