Wahlkampfthema Arbeitslosigkeit

It's Unemployment, Stupid!

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2004

CSV und DP regieren, die LSAP ist in der Opposition. Die Stahlindustrie kündigt Stilllegungen und Arbeitsplatzabbau in Düdelingen an. Wenige Monate vor den Wahlen demonstrieren unter Anführung sozialistischer Oppositionspolitiker  4 000 Leute gegen die Schließung des Düdelinger Walzwerks.

Das war vor 20 Jahren, und das Walzwerk war das Steckel-Warmwalzwerk. Die LSAP kam, dank des Versprechens nach Wiederherstellung der automatischen Indexanpassungen, mit 41,30 Prozent der Stimmen im Südbezirk in die Regierung, aber sie verhinderte doch nicht, dass der Steckel wenige Monate später,  am 30. November 1984, stillgelegt wurde.

Gestern diskutierte die Stahltripartite unter anderem über die Schließung des verbliebenen Düdelinger Kaltwalzwerks. Und in Düdelingen entsteht unter Anführung der lokalen LSAP eine Bewegung für den Erhalt des Walzwerks oder zumindest für eine Ersatzinvestition. Denn der Luxemburger Modell genannte Handel beruht auf einer doppelten Garantie, unter der die Gewerkschaften seit einem Viertel Jahrhundert der Modernisierung und Rationalisierung in der Stahlindustrie zustimmen: der Beschäftigungsgarantie, dass der Arbeitsplatzabbau ohne Entlassungen vollzogen wird, und der  Standortgarantie, dass die letzten fünf Stahlstandorte Belval, Schifflingen, Düdelingen, Differdingen und Rodange erhalten bleiben.

Dass die Mobilisierung in den Wahlkampf fällt, dürfte nicht ohne Folgen bleiben. Zweieinhalb Monate vor den Wahlen 1979 hatte der LCGB zusammen mit FEP, SESM (heute LCGB), NHV (heute NGL) und diversen CSV-Oppositionspolitikern in Esch gegen die LSAP/DP-Regierung, den OGB-L und die Stahltripartite manifestiert. Die CSV wurde wieder in die Regierung gewählt und handelte trotzdem mehr als ein "Avenant" zum Abkommen der Stahltripartite aus.

Aber vielleicht war das auch nur die Rache für die historische Großkundgebung am 9. Oktober 1973 gegen den versteinerten CSV-Staat. Sie hatte wesentlich zur politischen Mobilisierung beigetragen, an deren Ende acht Monate später die einzige Nachkriegsregierung ohne CSV gewählt wurde.

In den letzten Monaten fragte die Marktforschungsfirma ILReS im Auftrag des Parlaments und der Forschungszelle Stade der Uni Luxemburg zweimal rund 500 Leute, welche Themen vorrangig von der Regierung behandelt werden müss-ten. Für immerhin 85 Prozent der fast 1 000 Befragten rangierten die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit an erster Stelle. Zwischen November und Januar nahm der Anteil der Befragten, die diese Ansicht teilten, sogar noch um drei Prozent zu. Selbst Bevölkerungsgruppen, die sich weniger von der Arbeitslosigkeit bedroht fühlten, wie nicht-portugiesische Ausländer, Akademiker und junge Leute unter 24 Jahren, sollen noch immer zu über 70 Prozent Beschäftigung und Arbeitslosigkeit für eine politische Priorität halten.

Der große Unterschied gegenüber den letzten Wahlen ist, dass auf die Frage, welches Thema ihrer Meinung nach wahlentscheidend sein wird, 34 Prozent mit "Arbeitslosigkeit und Beschäftigung" antworteten, weit vor Erziehung (23 Prozent) und Renten (15 Prozent). Vor den Wahlen 1999 rangierte die Arbeitslosigkeit nur an vierter Stelle, ganz oben war bei den letzten Wahlen die Erziehung. Wobei möglicherweise ein Zusammenhang zwischen Ar-beitslosigkeit und Erziehung empfunden wird, da meist die unzureichende Qualifikation der Arbeitsuchenden als Ursache für die Arbeitslosigkeit dargestellt wird.

Für wahlentscheidend hielten die Arbeitslosigkeit und Beschäftigung diesmal besonders viele Luxemburger Akademiker aus der Hauptstadt, die für Einkommen zwischen 3 501 und 5 000 Euro mehr als 40 Stunden in der Woche arbeiten, so dass die Forschungszelle Stade schätzt, dass es sich hierbei vor allem um Leute handelt, die sich um den Arbeitsplatzabbau am Finanzplatz sorgen.

Dass Arbeitslosigkeit und Beschäftigung im Gegensatz zu den letzten Wahlen diesmal eine herausragende Rolle spielen könnten, kommt nicht von ungefähr: Der Abbau vonHunderten von Arbeitsplätzen bei Villeroy [&] Boch hatte schon letztes Jahr begonnen. Dann nahmen die Hiobs-botschaften zum Jahresende zu: Die Cepal-Gruppe der Bauernzentrale entließ im Dezember 121 Beschäftigte, die Vertriebsgesellschaft Centralmarketing inzwischen ihre gesamte Belegschaft. Die Sankt-Paulus-Druckerei begann im No-vember, 688 Arbeitsplätze bis 2006 abzubauen. Kein Wunder, dass bei den Sozialwahlen die stärksten Gewerkschaften siegten und der Versuch, einen neuen Verband neben den traditionellen Gewerkschaftszentralen aufzubauen, durchfiel.

In den letzten Wochen schien sich die soziale Lage nun binnen weniger Tage zuzuspitzen: RTL meldeteam 22. März, dass die Arcelor bis zu 2 000 Stellen abbauen würde, die Eisenbahngesellschaft kündigte fast gleich-zeitig den Abbau von 332 Stellen an. Die Tarifverhandlungen am Finanzplatz mussten wieder an den Schlichter weitergeleitet werden, die ABBL forderte mit dem Vorschlag einer Umgehung der automatischen Indexanpassungen die Gewerkschaften heraus.

Entsprechend nimmt im Augenblick auch die soziale Mobilisierung zu. Die Luxair-Piloten hatten für letzten Freitag einen Warnstreik angedroht, den sie erst am Vortag nach einem von Staatsminister Jean-Claude Juncker gutgeheißenen Sieg auf der ganzen Linie abbliesen. Bankangstellte demonstierten am 29. März vor der ABBL. Die Stahlarbeiter haben für den 27. April einen Warnstreik angekündigt.

Diese Unruhe ist verständlich: Die Arbeitslosenrate hat in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode ein neues Rekordniveau erreicht, Ende Februar lag sie bei 4,4 Prozent. Das Konjunkturkomitee zählte letzte Woche 8 912 Arbeitssuchende, zu denen noch 3 015 kamen, die vorübergehend in einer der vielen befristeten Beschäftigungsmaßnahmen steckten. Die Arbeitslosigkeit bei Frauen ist fast doppelt so hoch wie bei Männer, im Februar waren laut Eurostat 14,3 Prozent der Frauen unter 25 Jahren arbeitslos - bei jungen Frauen hat die Arbeitslosigkeit schon EU-Durchschnitt.

Da viele Arbeitsuchende nur für einige Monate arbeitslos sind, ist die Zahl der Leute, die innerhalb eines Jahres von Arbeitslosigkeit betroffen sind, um ein Vielfaches höher. Rechnet man auch noch die indirekt mit betroffenen Familienangehörigen hin-zu, muss man zum Schluss kommen, dass alleine von der Quantität her die Arbeitslosigkeit politisch immer mehr ins Gewicht fällt. 

Hier gerät die Regierung unter Rechtfertigungszwang. Sie musste sich nicht nur vorwerfen lassen, dass sie den Konjunktureinbruch ein Jahr lang verschlafen hatte und die Staatskasse demnächst leer ist, sondern auch, dass die Arbeitslosigkeit unter fünfjähriger CSV/DP-Herrschaft um 60 Prozent gestiegen ist. Sogar das Wahlprogramm der CSV muss eingestehen, dass das Gesetz über den nationalen Beschäftigungsplan von 1999 weitgehend wirkungslos war (d'Land, 02.04.04).

Während Jahrzehnten wählten die Menschen, und mehr noch im Süden als in den anderen Bezirken, die LSAP als Garantin des Sozialstaats. Doch die letzte Wahlprognose des Tageblatts (03.04.04) war eine Katastrophe für die LSAP: Sie be-scheinigt den oppositionellen Sozialisten nicht nur, wie die beiden vorigen Umfragen, ihre völlige Unfähigkeit, Nutzen aus einem Wahldebakel der regierenden DP zu ziehen. Sie sagt der CSV auch noch voraus, endgültig stärkste Partei in der sozialistischen Hochburg und Wiege der Arbeiterbewegung, dem Südbezirk, zu werden. In Wirklichkeit hatte die CSV schon bei den letzten Wahlen die Sozialisten übertrumpft, aber nur mit einem schnell vertuschten halben Prozent Stimmenanteil. Doch letzten Samstag sagten Tageblatt und ILReS der CSV einen Vorsprung von 5,9 Prozent und ein bis zwei Sitzen gegenüber der LSAP im Süden voraus. So als würden jene Wähler, die bisher im Süden die Sozialisten wählten, endgültig den CSV-Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker als die bessere Versicherung gegen Sozialabbau, als das ansehen, was er immer sein wollte: den besseren Sozialisten.

Wenn die begonnene soziale Mobilisierung die bisher privaten Ängste der Wähler vor der Arbeitslosig--keit zum gesellschaftlichen Thema bündelt, könnte sie das letzte Moment sein, das noch einen Einfluss auf den Ausgang der Wahlen nimmt. Und sie könnte die letzte Hoffnung der LSAP sein, doch noch aus ihrem Stimmungstief zu steigen.

Sicher ist das aber keineswegs. Denn während déi Lénk schon fleißig Plakate gegen einen weiteren Arbeitsplatzabbau klebt und die Kommunistische Partei von OGB-L-Präsident John Castegnaro be-schimpft wird, fällt es der LSAP schwer, innerhalb der Tripartitelogik griffige Alternativen zu entwi-ckeln. Wobei die Kandidatur des OGB-L-Präsidenten auf der LSAP-Liste vor dem Hintergrund von Tripartite, Warnstreiks und Kundgebungen für die Partei ebenso schnell zum Popularitätsbonus wie zum Glaubwürdigkeitsproblem werden kann.

Premier Jean-Claude Juncker verstand es letzte Woche jedenfalls im Luxair-Konflikt souverän, seine peinliche Beschäftigungsbilanz in den Hintergrund zu rücken, seinen für die Luftfahrt zu-ständigen Koalitionspartner als sozial desinteressierte Wirtschafts-partei vorzuführen und sich als der bessere Sozialist auf die Seite der Ge-werkschaften zu schlagen. Da konn-ten LSAP und OGB-L erst einmal wieder unverrichteter Dinge nach Hause gehen. Doch in Unternehmerkreisen wird gefürchtet, dass dieser Erfolg von Pilotenvereinigung und LCGB an-steckend wirken könnte. Und  die Stahlarbeiter er-warten nun nicht weniger von ihrem staatlichen Aktionär als die Luxairbeschäftigten.

 

 

 

 

 

Romain Hilgert
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