Ein Holzkreuz an jeder Zimmerwand. Gerne auch mehrere. Jeden Sonntag in den Gottesdienst mit Erweckungsgetue. Alltagsleben in Guatemala City. Eine gesichtslose Stadt in vielen Straßenzügen, die oftmals keinen Namen tragen, sondern für die Adresse beschrieben werden. Damit man sie findet, gerade wenn Erdstöße das Leben und die Stadt zerrüttet haben. Fest zementiert hingegen die Gesellschaft: Mittelamerika mit seiner unüberwindbaren Kluft zwischen Arm und Reich. Letztere sichern sich mit Stacheldraht und Wachpersonal ab, die Zugehfrau legt abends den Kindern das Gemüse vor. Im Schwimmbecken mit olympischen Ausmaßen wird für das Überleben trainiert. Auf der anderen Seite das „gemeine Volk“, das sich früh am Tag dem selbst gebrauten Mescal hingibt, sich durch den Alltag windet. Allen gemeinsam ist die Suche nach einem besseren und befreiten Leben. Einem selbstbestimmten Leben.
Es ist genau dieser Zwiespalt, der in Jayro Bustamentes Film Temblores dargestellt wird. Übersetzen lässt sich der Titel mit „Erschütterungen“ oder „Beben“. Im Film sind es denn auch zwei Erdstöße, die jeweils den „Deus ex machina“ geben, nicht um ein unerwartetes Ereignis einzuleiten, sondern um in der Wendung des Geschehens einen Moment des Innehaltens, Verstärkens, Besinnens und Sorgens zu bieten. Als sei es dem Regisseur ein Anliegen, deutlich zu machen, dass es jenseits des persönlichen Schicksals noch weitaus größere Zusammenhänge gebe, die sich ebenfalls verändern.
Pablo, Sohn aus einer reichen Familie mit gefestigter, vorgezeichneter Karriere als Unternehmensberater, Vater von zwei Kindern, Ehemann einer Vorzeige-Ehefrau, gut situiert, aufgenommen im Schoß der Familie und der Kirche, verliebt sich in den deutlich ärmeren Lebenskünstler Francisco. Für ihn verlässt der Sohn aus gutem Hause seine strenggläubige, evangelikale Familie in Guatemala City. Pablo liebt Francisco, Pablo steht zu ihm, Pablo möchte mit ihm zusammenleben. Doch die Familie – der „größere Zusammenhang“ – macht da nicht mit und zieht zu Felde. Erst verliert Pablo seine Arbeit, dann verbietet ihm seine Frau den Umgang mit den Kindern. In diesem Moment dämmert Pablo, dass er einen verdammt steinigen Weg vor sich hat, der ihn weit weg führt vom sorglosen, materiell abgesicherten Dasein im Kreise der Familie. „Ist das der Preis fürs Schwulsein?“, fragt er Francisco. Der antwortet: „Dachtest du, dass es einfach ist, eine Schwuchtel zu sein? Wir sind hier nicht in Luxemburg.“ Doch die Familie zieht alle Register, fürchtet um den Verlust von Gesicht und Ansehen, stellt Glaube, Familie und Ruf über alles und alle – bringt Pablo schließlich dazu, sich einer „Homo-Heilung“ zu unterziehen. Diese wird veranstaltet von der Priesterin, die stets adrett und im Businesskostüm durch die Sehnsüchte ihrer Gemeinde watet, um dann per Kreditkarte die Spendenbeiträge abbuchen zu lassen.
Regisseur Bustamante verzichtet auf eine allzu üppige Bildsprache. Die schwule Subkultur in Guatemala muss ohne alle Bling-Bling- und Federboa-Klischees aus der westlichen Subkultur auskommen. Francisco führt ein beinahe stetes Leben, nach seinen Möglichkeiten, am unteren Rande der Gesellschaft. Das schwule Leben wird so normal dargestellt, wie es eben möglich ist. Es bleibt dunkel, schlecht ausgeleuchtet, abgründig, aber voller Herzlichkeit und Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität. Allerdings auch mit Angriffen und Gewalt gegen Homosexuelle. Auf der anderen Seite das evangelikale Erlösungsgeschehen im überblendeten, hellausgeleuchteten Gottesseminarraum, was der Kälte und auch der perfiden Abgewixtheit von kapitalistischen Heilsversprechen in ihrer routinierten Inszenierung und empathischen Kälte entspricht. Das Bild der Familie folgt diesem Ansatz. Grell und kalt, aber mit den Lockungen eines leichten Lebens. Dazwischen Pablo. Es ist mehr als nur ein Bruch in seiner Biografie, sondern der Gewissenskonflikt um „das große Ganze“: Darf er sein persönliches Lebensideal über das seiner Familie stellen? Hinzu kommt der fortwährende Konflikt in süd- wie mittelamerikanischen Staaten und Gesellschaften, ob man zum Wertesystem der westlichen Welt gehört, oder nicht doch seinen eigenen Weg gehen sollte – Tradition versus Individualität, zementierte Hierarchie oder alles vergessende Selbstbestimmung.
Pablo ringt. Mit sich. Begibt sich schließlich doch zur Homo-Heilung bei der evangelikalen Kirche, die ein wenig auch freiheitstheologisches Gedankengut im Ansatz hat. Der institutionalisierte Glaube erhöht letztendlich aber den persönlichen Reichtum über jedwedes Seelenheil. Die Assistentin der Hohen Priesterin erklärt fortwährend den göttlichen Plan und hat noch drei weitere Bücher der Göttin mit Hochsteckfrisur zum Thema im Angebot. Die Familie drängt Pablo zur Heilung, denn auch sie möchte die vermeintlich göttliche Weltordnung wiederhergestellt wissen, in der alles an seinem Platz steht. Pablo mit adretter Familie ganz oben. Francisco unten. Temblores hin oder her.
Das große Verdienst des Films ist, dass er zu keiner Zeit den Zeigefinger erhebt oder richtet. Die Religiosität der guatemaltekischen Familie wird pointiert, aber nicht überzeichnet oder karikiert. Das schafft die Filmsekte mit ihren Ratgebern für die perfekte Ehefrau und ihrer menschenverachteten Homo-Heilung schon selbst. Es wird auch kein Hochglanz-Schwulsein verkauft mit der Desingerwohnung am Stadtpark, sondern ein Abbild einer Gesellschaft geliefert, die sich mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzt und zu verstehen versucht, wie viel Eigenständigkeit sich gegen tradierte, von Gott gegebene Strukturen und Moralgebote durchsetzen lässt.
In Berlin berichten die Darsteller, was für sie persönlich dieser Film brachte. Ein Schauspieler erzählt, E-Mails aus seiner Familie erhalten zu haben, kaum dass er die ersten Szenen abgedreht hatte. Darin wurde er bezichtigt, Schimpf und Schande über die Familie zu bringen. Für Bustamente war der Film ein großes Wagnis. Etwa zehn Jahre sei die guatemaltekische Filmindustrie nun alt, sagt er. Pro Jahr würden drei Filme produziert. Dann sei es etwas sehr Besonderes, wenn sich einer dieser Film einem queeren Thema widme und dann noch die evangelikale Heilstheorie kritisiere.