Die Verhandlungen über die Änderungen des EU-Vertrages auf dem Krisengipfel des Europäischen Rates am 8. und 9. Dezember vergangenen Jahres haben einen Platz in der Geschichte sicher. Der Riss, der durch die Weigerung Großbritanniens, Vertragsänderungen mitzutragen, die weitere Souveränitätsverluste bei der Finanz- und Wirtschaftspolitik mit sich bringen sollen, wird so schnell nicht geheilt werden. Jetzt gehen die Verhandlungen in die Endphase. Am Donnerstag, nach Redaktionsschluss dieser Zeitung, sollte der letzte Entwurf der verhandelnden Parteien vorgelegt werden. Am 30. Januar wollen die die Staats- und Regierungschefs den Vertrag absegnen, im März soll er unterzeichnet und dann so schnell ratifiziert werden, dass er zum 1. Januar 2013 in Kraft treten kann.
Am Mittwoch verabschiedete das Europäische Parlament mit großer Mehrheit seine Position zum Vertragsentwurf. In der kurzen Debatte zeigte sich, dass die meisten Europaparlamentarier den ganzen Vertrag für überflüssig halten. Das Ziel könne auch innerhalb der Verträge erreicht werden, hieß es. Sogar Unabhängigkeitsfanatiker Nigel Farage, Vorsitzender der United Kingdom Independent Party, musste überrascht eingestehen, dass er plötzlich mit seinem Widersacher Daniel Cohn-Bendit von den Grünen einer Meinung war. Der bekennende europäische Föderalist Cohn-Bendit und Nigel Farage verurteilen den kommenden Vertrag allerdings von völlig unvereinbaren Positionen.
Die Mehrheit des Europäischen Parlaments fühlt sich in der Krise zu Recht von den Mitgliedstaaten an den Rand gedrängt. Sie verlangen, als gewählte Vertreter der EU-Bevölkerung ein starkes Mitspracherecht bei der Krisenbewältigung. Der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, der am Dienstag zum Parlamentspräsident gewählt wurde, sprach in seiner Antrittsrede sogar explizit vom europäischen Volk, was so vor ihm wohl noch niemand getan hat. Er hat mit dieser Wortwahl aber genau die Stimmung im Parlament getroffen. Hier kann sich niemand vorstellen, dass umfassende Spar- und Restrukturierungsmaßnahmen, die allein vom Ministerrat oder vom Europäischen Rat beschlossen werden und damit an einem Mangel an demokratischer Legitimation leiden, von den Menschen in den Mitgliedstaaten akzeptiert werden.
Das Europäische Parlament kämpft denn auch dafür, dass alle Implementierungsmaßnahmen des zukünftigen Vertragswerkes nur im Gemeinschaftsverfahren, das heißt mit vollen Mitentscheidungsrechten des Parlaments beschlossen werden können. Danach sieht es im Moment nicht aus. Elmar Brok von der Europäischen Volkspartei, neben dem Italiener Gualtieri von den Sozialisten und Demokraten und Guy Verhofstadt von den Liberalen einer der drei Verhandler des Parlaments gab sich noch verhalten optimistisch. „Es könnte, und ich betone, es könnte noch in die richtige Richtung gehen“, sagte er im Plenum.
Noch vergangene Woche hatten er und seine Kollegen den vorliegenden Entwurf scharf kritisiert. Von einer Inkompatibilität mit den bestehenden Verträgen, von der fehlenden Festschreibung der Rolle des Parlamentes und der Rechenschaftspflicht war da die Rede und davon, dass man nur mit Sparen allein, aber ohne eine Wachstumsprogramm, nicht aus der Krise kommen könne. Guy Verhofstadt sieht die große Gefahr, dass der intergouvernementale Vertrag zum Präzedenzfall für zukünftige Problemlösungen werden könnte. Er forderte, dass es keine doppelten Standards und Normen und nicht zwei Arten von Defizitverfahren geben dürfe. Das Parlament will durchsetzen, dass in den Vertrag rechtsverbindlich hineingeschrieben wird, dass er spätestens nach fünf Jahren in das Gemeinschaftsrecht überführt wird.
Daniel Cohn-Bendit wies nicht ganz zu Unrecht darauf hin, dass der Vertrag auch deshalb überflüssig sei, weil er zur Beruhigung der Märkte geschlossen werden soll. Die würden aber darauf pfeifen und sich nicht so sehr für Schuldengrenzen interessieren, sondern für Konzept für die Zukunft. Das Parlament rief er auf, Gesetzesinitiativen für diese Konzepte anzustoßen. Er nannte die Finanztransaktionssteuer, einen europäischen, langfristigen Fonds zur Rückzahlung der Schulden, Euro- und so genannte Projektbonds. Eine Roadmap für diese zusätzlichen Maßnahmen wollte das Europäische Parlament ursprünglich im Vertrag sehen, hat darauf aber zuletzt verzichtet.
Durchsetzen wollen die Parlamentarier auch noch, dass alle Unterzeichnerstaaten an den Sitzungen der Eurogruppe teilnehmen können, was bisher nicht vorgesehen ist. Ein Klagerecht der Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof, wenn sich ein Mitgliedstaat nicht an die Sta[-]bilitätskriterien oder vereinbarten Restrukturierungsmaßnahmen hält, steht ebenfalls nicht in den Entwürfen. Stattdessen gibt es ein Schlupfloch bei der Einhaltung der Verschuldungsgrenzen. In Notfällen sollen diese doch unterlaufen werden können. Außerdem heißt es in vielen Formulierungen „shall“ und nicht „have to“. So hart wie angekündigt, wird der Vertrag nicht werden. Ob er dann noch seinen versprochenen Zweck erfüllen kann, weiß heute niemand.