Der Europaabgeordnete Martin Schulz ist dem interessierten Publikum seit 2003 ein Begriff. Silvio Berlusconi sei Dank. Der italienische Premier hatte Schulz 2003 nach scharfer Kritik im Europäischen Parlament an der Verquickung von Medienmacht und Politik geraten, sich doch einmal als KZ-Wächter in einem Film zu versuchen. Im Rückblick könnte dieser Eklat, der damals große Wellen schlug, als der Beginn der Karriere von Martin Schulz innerhalb des Europäischen Parlaments gelten. Dort wird kolportiert, dass man intern mit Sekt auf Berlusconi angestoßen habe, so willkommen sei der Ausfall Berlusconis gewesen. In der Affäre wurden schon einige Elemente sichtbar, die Martin Schulz nächste Woche auf den höchsten Posten des Europaparlamentes tragen werden, denn er wird, einer Absprache zu Beginn der Legislaturperiode gemäß, für die nächsten zweieinhalb Jahre zum EP-Präsidenten gewählt werden.
Der Sozialdemokrat Martin Schulz scheut nicht das deutliche Wort, er hat Schnauze und haut gerne mal politisch mit griffigen, aber oft überspitzten Parolen auf die Pauke nach dem Motto Politik muss inszeniert werden, wenn sie wahrgenommen werden will. Schulz kommt aus dem Rheinland, da liegen ihm Inszenierung und übertriebenes Pathos im Blut. Von 1987 bis 1998 war er Bürgermeister von Würselen bei Aachen. Aber auch das andere Element zählt: Martin Schulz hat sich nie gescheut, demokratische oder andere Defizite offen und laut zu benennen und den Finger schon dann in die Wunde zu legen, wenn andere noch taktierten.
Neben Showtalent und Standfestigkeit verfügt Schulz ein weiteres notwendiges Element für politische Karrieren. Er ist ein guter Strippenzieher hinter den Kulissen und war zum Beispiel maßgeblich daran beteiligt, Catherine Ashton als EU-Außenministerin durchzusetzen. Mit Joseph Daul, dem französischen Fraktionsvorsitzenden der Konservativen, versteht er sich blind. Was man in Köln traditionell Klüngel nennt, heißt heutzutage eleganter netzwerken, und das kann Schulz definitiv sehr gut. 2004 eroberte er nach einer Wahlniederlage der britischen Sozialisten den Vorsitz der sozialdemokratischen Fraktion mit Hilfe der französischen und spanischen Abgeordneten. Schulz ist mit Frankreich verbunden, spricht fließend Französisch und soll ein Ferienhaus in der Bretagne besitzen. Die Spanier konnte er gewinnen, indem er einem der ihren, dem völligen europapolitischen Newcomer Josep Borell, 2004 den Posten des EP-Präsidenten verschaffte. Das Amt wird schon fast traditionell zu Beginn jeder Legislaturperiode zwischen den beiden großen Fraktionen aufgeteilt. Eine Halbzeit wird ein Vertreter der Europäischen Volkspartei Präsident, dann folgt ein Sozialdemokrat. Oder umgekehrt.
Dass Martin Schulz nun auf diesen Posten gewählt wird, liegt vor allem an seinem persönlichen Ehrgeiz. 2009 wäre er gerne EU-Kommissar geworden. Der Posten als Parlamentspräsident birgt jedoch Gefahren für politische Karrieren. Oft ist er in der Vergangenheit die letzte Sprosse auf der Leiter gewesen. Das will Martin Schulz jedoch unbedingt vermeiden. Um sich in die Geschichtsbücher einzuschreiben, will er das repräsentative und im Grunde politisch unwichtige Amt benutzen, um große europäische Politik zu machen. Das kann gelingen, weil Europa in einer tiefen Krise steckt und klare Führung sucht. Der Schuss kann aber auch fürchterlich nach hinten losgehen.
Im deutschen Wochenmagazin Der Spiegel kündigte Schulz schon mal vor großem Publikum an, dass er künftig bei Sitzungen des Europäischen Rates nicht nur ein staatstragendes Eingangsstatement zu halten gedenke, um dann zu verschwinden, sondern einfach sitzenzubleiben. Er wolle so Öffentlichkeit herstellen und den Diskussionen und Beschlüssen der Staatschefs hinter den Kulissen ein Ende bereiten und klarmachen, dass die Zeit der intergouvernementalen Herrlichkeit vorbei sein müsse. Wenn das Publikum Glück hat, wird es demnächst einen Parlamentspräsidenten erleben, der von Saaldienern wie ein Blockierer von Atomtransporten aus dem Sitzungssaal getragen wird. Schulz spielt hier ein riskantes Spiel. Er kann zum Zentrum einer wichtigen europapolitischen Diskussion um das Niveau europäischer Demokratie und die Rolle von Parlament und Rat werden. Er kann aber auch der Lächerlichkeit anheimfallen und dem Parlament einen schweren Schaden zufügen.
Martin Schulz wird provozieren, aber er wird dies sehr kalkuliert tun. Schließlich gibt es für ihn auch noch ein Leben nach dem Amt. Wie man hört, traut er sich nicht nur den EU-Kommissar zu, sondern auch den Kommissionspräsidenten. Wer dahin will, darf sich nicht zu viele Feinde machen. Bisher hat er den Spagat, zum Beispiel den Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso und Bundeskanzlerin Angela Merkel öffentlich zu beschimpfen, aber hinter den Kulissen den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, glänzend hinbekommen. Als Parlamentspräsident darf Martin Schulz kein Wadlbeißer mehr sein, das verbietet die Würde des Amtes. Schulz hat insofern schon gewonnen, als dass er die Erwartungen an seine Präsidentschaft in die Höhe geschraubt hat. Es bleibt zu hoffen, dass er sie auch erfüllen kann.