Vor drei Wochen einigte sich der Regierungsrat auf einen Gesetzentwurf zur palliativmedizinischen Betreuung Sterbenskranker. Künftig soll ein Arzt an ihnen den Beginn der "phase palliative" diagnostizieren. Der Befund wird vom Contrôle médical, der Kontrollinstanz bei der Sozialversicherung, geprüft. Fällt das Gutachten positiv aus, soll der Patient ein Zertifikat ausgehändigt bekommen, das vergleichbar wäre mit der Verschreibung einer Behandlung, und er soll sterbebegleitende Leistungen am Ort seiner Wahl in Anspruch nehmen können: in einem Krankenhaus, einem Senioren- oder einem Pflegeheim, in einem Hospiz (Centre d'acceuil pour personnes en fin de vie) oder daheim.
Das Vorhaben ist ehrgeizig, weil es den Anspruch auf palliativmedizinische Pflege und Betreuung zum Patientenrecht erklärt. Zwar gibt es Palliativbetreuung bereits. Aber es gibt Versorgungslücken. Seit 1989 bekannten sich die wechselnden Regierungen zur Palliativmedizin. Die asbl Omega 90 bietet seit 1992 Weiterbildungskurse in Palliativbetreuung für mediznisches und Pflegepersonal sowie für Freiwillige an. Bislang gibt es an die 250 Absolventen.
Erst 1994 aber wurde im Escher Stadtkrankenhaus die erste Palliativstation in einer Klinik als Pilotprojekt gegründet, und erst 1999 war klar, dass sie weiter bestehen und ihre Bettenzahl von fünf auf acht erhöht werden würde. Obwohl das Krankenhausgesetz von 1998 Palliativbetreuung ausdrücklich als Mission für die Spitäler festschreibt, ist die flächendeckende Ausstattung der "hôpitaux généraux" mit Palliativbetten bis heute noch nicht abgeschlossen. Eine an der hauptstädtischen Kongregationsklinik Ste Élisabeth eingerichtete Palliativstation wurde ins neue Kirchberger Krankenhaus verlegt und von sechs auf zehn Betten aufgestockt. Im Ettelbrücker Centre hospitalier du Nord gibt es seit der Neueröffnung ebenfalls sechs Palliativbetten. Im Differdinger HPMA ist ihre Einrichtung erst demnächst vorgesehen. Das hauptstädtische CHL hat darauf bis heute verzichtet, stattdessen in sämtlichen Stationen ein System der "Schmerztherapie" eingeführt und will eventuell in der Eicher Klinik, mit der es unlängst fusionierte, eine Palliativstation aufbauen. Auch die Zitha-Klinik im Luxemburger Bahnhofsviertel plant keine Palliativstation, stattdessen eine stationenweit integrierte Schmerzbehandlung plus einer mit den vier zur Zitha-Gruppe gehörenden Senioren- und Pflegeheimen noch zu entwickelnden "Palliativkultur".
Dieser Begriff verdeutlicht, dass die große Herausforderung in der Vernetzung der Angebote liegt - immerhin soll der Patient die Wahl haben, wo er betreut werden möchte. Um die Verbindung zwischen Klinikstation und Zuhause herzustellen, sollen sämtliche "hôpitaux généraux" entweder eigene "antennes mobiles" einrichten, oder mit mobilen Pflegediensten Konventionen abschließen. Bisher unterhält nur das Ettelbrücker Krankenhaus eine eigene derartige "antenne" als Pilotprojekt. Nächste Woche wird es fünf Jahre alt. In der Hauptstadt besteht seit zwei Jahren ein Pilotprojekt zur geteilten Betreuung zwischen dem CHL und dem Pflegedienst der Stiftung Hëllef doheem.
Es stellt sich freilich die Frage, wie rasch solche Vernetzungen eingerichtet werden können, wenn das neue Gesetz einmal in Kraft getreten ist. Der Entwurf beantwortet sie nur unzureichend. Alle Erfahrung zeigt: Palliativpflege ist aufwändig, insbesondere im mobilen Bereich. Beim Ettelbrücker Pilotprojekt etwa betreuen fünf Pflegekräfte der Klinik vor allem sterbenskranke Krebspatienten im Norden. Pro Besuch stehen dem Patienten ein bis zwei Betreuungsstunden zur Verfügung. Mehr als auf Station, mehr als in so manchem Pflegeheim, wo schlechtestenfalls sich nur zwei Schwestern pro Schicht um 30 Patienten kümmern. Beim Pilotprojekt von CHL und Hëllef doheem betreuen sieben Pflegekräfte pro Tag im Schnitt sieben Patienten. Bei Bedarf rund um die Uhr.
Wird sich ein solches Angebot landesweit zum Standard erklären und auch aufrecht erhalten lassen? Premier Jean-Claude Juncker hängte in seiner Erklärung zur Lage der Nation am 20. Mai letzten Jahres die Latte hoch. Die Palliativbetreuung, so Juncker damals, "muss esou ausgebaut ginn, datt 440 Patienten d'Joer hospitaliséiert kënne ginn, datt 115 Persounen d'Joer ander Dageshospitalisatioun opgeholl kënne ginn an datt ronn 700 Persounen doheem oder an engerspezialiséierter Palliativ-Klinik gepfleegt a begleet kënne ginn. Dat ass de Besoin dee mer hunn an d'Erfëllung vun deem Besoin ass eis Flicht".
Nach Vorlage des Gesetzentwurfs aber gibt es weder im Gesundheitsministerium, noch bei den Krankenkassen, noch bei der Cellule d'évaluation et de coordination der Pflegeversicherung Vorstellungen von diesem Bedarf. Zwar soll den spezifischen Bedürfnissen Sterbenskranker künftig besser Rechnung getragen werden. Damit ihre Betreuung unkompliziert und wirksam erfolgen kann, sollen eine Reihe von Beschränkungen in den Leistungskatalogen der Pflege- und der Krankenversicherung abgeschwächt oder suspendiert werden. So soll das Palliativ-Zertifikat automatisch und ohne langwierige Bedürftigkeitsanalyse Zugang zu sämtlichen Leistungen der Pflegeversicherung garantieren. Um den Bedürfnissen Sterbenskranker nach intensiverer ärztlicher Betreuung zu genügen, sollen in der Krankenkassennomenklatur bestehende Beschränkungen für die Häufigkeit von Konsultationen beim Spezialisten abgeschwächt werden. Der Gesetzentwurf greift auch die aus den Reihen der schon in der Palliativbetreuung tätigen Pflegedienste Hëllef doheem und Help - doheem versuergt bereits seit Jahren geäußerte Kritik auf, dass ihnen medizinische Leistungen zu erbringen eigentlich nicht möglich sei. Zwar verfügen die beiden Netzwerke über genügend medizinisch ausgebildetes Pflegepersonal. Bis heute aber kommen die Krankenkassen für Leistungen wie das Wechseln von Verbänden, die Verabreichung von Spritzen oder das Anlegen von Infusionen nur auf, falls ein Arzt sie verschrieben hat. So will es das geltende Schema der Kostenerstattung durch die Krankenkassen pro Behandlungsakt. "Wir machen es natürlich trotzdem", sagt Paul Schmit, Geschäftsführer der aus der Caritas hervorgegangenen Stiftung Hëllef doheem, "doch wir finanzieren es weitgehend selbst." Der Kostendeckungsgrad durch die Krankenkassen erreiche grosso modo nur rund 20 Prozent.
Künftig soll für die Behandlung von Palliativpatienten durch mobile Dienste ein "forfait" gelten. Doch sein Umfang ist noch nicht vollends definiert, unklar ist vor allem, wie sich der Bedarf an psychologischem Beistand sowohl für die Palliativpatienten selbst als auch für ihre Familien quantifizieren und in einem Geldwert ausdrücken lässt.
Angesichts dieser Unklarheiten könnte der Gesetzentwurf entweder doch nicht vor den Wahlen verabschiedet werden, oder nur als Rahmen, der noch auszufüllen bleibt. Zumal er neben der noch ungelösten Finanzierungsfrage auch eine Reihe ethischer und medizinisch-deontologischer Fragen aufwirft. Nicht nur enthält der Text, weil in der gesellschaftspolitischen Diskussion der Ausbau der Palliativbetreuung als Abwehr für Forderungen nach Legalisierung der Euthanasie benutzt wurde, klärende Paragrafen, die den Ärzten versichern, sich nicht strafbar zu machen, falls sie auf den "acharnement thérapeutique" an Sterbenskranken verzichten. Diese Formulierungen könnten noch zu längeren juristischen und ethischen Exegesen Anlass geben.
Doch auch die Forderung an die Ärzte, den Beginn der "phase palliative" diagnostizieren zu müssen, ist deontologisch nicht ohne Problem und wiederum mit Finanzierungsfragen verknüpft. "Bisher", sagt der Ettelbrücker Krebsspezialist Dr. Frank Jacob, der die dortige "antenne mobile" leitet, "gelten vor allem Tumorpatienten als Palliativpatienten. Man betreut sie, ohne dass dafür ein besonderer Befund vorliegt. Aber was ist mit an schwerer Herzinsuffizienz Leidenden? Mit schwer neurologisch Kranken? Wo beginnt die palliative Phase bei multipler Sklerose?"
Diskussionen in der Ärzteschaft sind damit programmiert. Und ergebnisoffen. Am Ende könnten sie es sein, verbunden mit Finanzierungsfragen, die der Palliativbetreuung in Luxemburg Beschränkungen auferlegen, von denen der Gesetzentwurf heute noch nicht spricht, wie sie aber in den Nachbarländern praktiziert werden. In Deutschland etwa ist Palliativbetreuung nur zwei Wochen lang möglich. In manchen Bundesländern und von manchen Kassen getragen auf einen Neuantrag hin auch darüber hinaus. Aber eben nicht allgemein.
Und nur eine ganz grobe Faustregel ist unter Palliativmedizinern die Annahme, ihre Patienten hätten nur noch einen Monat zu leben, sobald ihre Betreuung einsetzt. "Das", sagt Frank Jacob, "muss nicht so sein. Wir haben mal eine schwerkranke Frau 14 Monate lang versorgt."