„Wir haben einen Punkt erreicht, wo nicht mehr viel Hoffnung auf Besserung ist“, seufzt Monika Graser und nimmt einen kräftigen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Die Leiterin des Tox-In und des angegliederten Nacht-asyls weiß, wovon sie redet: Sie war seit der Gründung des Drogenkonsumraums dabei. Schon damals bestand dessen Hauptaktivität darin, Spritzen zu verteilen, medizinische Betreuung zu leisten, Süchtigen ein Bett zu gewähren.
Seitdem hat sich die Zahl der Nutzer der im Volksmund Fixerstuff genannten Einrichtung rasant erhöht: Waren es im Jahr 2005 noch 1 250 Kontakte, ist deren Zahl 2009 auf 24 700 geklettert. Auch die Personaldecke wuchs: Was unter Leitung von Abrigado-Begründer Tom Schlechter noch als kleiner mobiler Bus mit einer Hand voll Mitarbeiter funktionierte, ist heute ein regelrechtes Kleinunternehmen mit 25 Sozialarbeitern, Krankenpflegern und Psychologen, Betriebsrat inklusive. 18 Stunden ist die Einrichtung an der Route de Thionville täglich geöffnet. Es ist ein niedrigschwelliges Angebot, in einem Provisorium, zu dem aber jeder Zugang hat. Oder besser gesagt: hatte.
Seit Dezember nämlich steht vor dem Containerkomplex ein stachelig-grünes Drehkreuz mit einem roten Signalkopf, das nur einer nach dem anderen passieren kann. „Wir versuchen, den Zufluss zu kanalisieren“, erklärt Graser. Weil sich zu Stoßzeiten zwischen 200 und 250 Leute vor dem Tox-In drängten, wurde der Einsatz für die Sozialarbeiter immer gefährlicher. Wer die Einrichtung kennt, kann sich ausmalen, was ein Ansturm von 200 Leute täglich bedeutet: Der nackte, mit Neonröhren versehene Flur hinter der gläsernen Eingangstür misst ungefähr zwei mal vier Meter. „Wenn sich die Massen da hineinzwängen, wird es unübersichtlich. Da kann schnell etwas passieren“, sagt Graser. Nicht jeder Nutzer denke daran, sein Spritzgeschirr sicher zu transportieren. Der Auslöser für die Eingangskontrolle war jedoch ein Streit: Ein Besucher war mit seiner Freundin auf der Toilette aneinander geraten und wurde handgreiflich. Der Sozialarbeiter, der mutig zwischen die Streithähne ging, kassierte ein blaues Auge. Weil die Enge wiederholt zu Aggressionen führte, war klar: So konnte es nicht weitergehen. Ein Drehkreuz musste her. Der stachelige Riese erlaubt ein kontrolliertes Einlassen, zum Preis, dass die Schwelle, ins Tox-In zu gelangen, nun etwas höher liegt. Zuvor hatten die Sozialarbeiter vergeblich andere Wege versucht, um den Druck herauszunehmen: Die Ausgabe von frischen Kleidungsstücken und Orangensaft, zur Vitaminversorgung der Süchtigen, wurde zunächst reduziert und dann schweren Herzens völlig eingestellt. Als sich der Ansturm immer noch nicht legte, habe man sich „mehr oder weniger mit Murren“, so Graser, für das Drehkreuz entschieden.
Der Run auf das Tox-In erklärt sich aber nicht durch ein wachsendes Drogenproblem. Die Zahl der Abhängigen ist in Luxemburg, nach Jahren der Stabilisierung, insgesamt sogar leicht rückläufig und beläuft sich laut aktuellem Drogenbericht auf etwa 2 500. Auch waren im vergangenen Jahr lediglich zehn Tote wegen Überdosis zu beklagen, auch ein Erfolg der Sozialarbeiter des Tox-In, die mehrfach bei Überdosierungen intervenierten.
Dass so viele Konsumenten der Fixerstuff die Tür einrennen, hat vor allem mit verschärften ordnungspolitischen Maßnahmen zu tun, die Drogenabhängige zunehmend aus dem öffentlichen Raum vertreiben, meint der Drogenbeauftragte Alain Origer im Gesundheitsministerium. Weil der Staat verstärkt auf Überwachung setzt, am Bahnhof Kameras errichtet wurden, mehr Geschäfte private Wachfirmen engagiert haben und Rückzugsräume wie die Sandkaul bebaut wurden, habe sich der Schwerpunkt verlagert: „Die Drogenszene spielt sich jetzt im und um dem Tox-In herum ab“, weiß Origer. Um neun Uhr verlassen die letzten Bewohner des Nachtasyls mit seinen 42 Betten den Bau. Gegen Nachmittag ziehen die ersten dann in Gruppen oder allein wieder in Richtung Tox-In, um sich ihren Schuss unter medizinischer Beobachtung zu setzen. „Das ist besser als in einem Hauseingang, aus dem wir doch wieder fortgejagt werden“, sagt ein Besucher, der ziemlich mitgenommen aussieht. Er kann sich kaum auf den Beinen halten.
Was die Polizei freut, weil sie die Szene besser im Auge behalten kann, birgt für die Sozialarbeiter ein erhöhtes Sicherheitsrisiko. Denn den Konsumenten folgten die Dealer. „Sie sind gefährlicher, denn ihnen geht es um viel Geld“, betont Graser. Anfangs wurden nur kleinere Mengen hinter dem Pavillon gedealt, doch die Lage spitzte sich dramatisch zu. „Teilweise liefen Dealer ihren Käufern in das Gebäude hinterher und gefährdeten so das Gesamtprojekt“, erinnert sich die Leiterin. Drogenverkauf ist in Luxemburg verboten.
Im Herbst dann knallte es: Einige Mitarbeiter, ausgelaugt von den extremen Arbeitsbedingungen in dem für zwei Jahre geplanten, mittlerweile aber sieben Jahre andauernden Provisorium, machten ihrem Unmut in einem Brief an den Gesundheitsminister und den Bürgermeister Luft. Auch dem Direktor des Trägers, Gilles Rod vom Comité national de défense sociale, gaben einige verbittert Mitschuld, allerdings ohne zuvor ein Gespräch mit ihm gesucht zu haben. Enttäuscht von der Stagnation und den leeren Versprechungen der Politik, forderten sie, mehr Druck im Drogendossier auszuüben. Zuletzt hatte die Nachricht, dass die Firma Paul Wurth gegen den Standort nahe der CFL-Gleise klagt, ihre Laune auf einen neuen Tiefpunkt sinken lassen.
Die Entscheidung, sich nicht politisch zu äußern, hatte die Tox-In-Direktion gemeinsam mit dem Verwaltungsrat jedoch mit Bedacht getroffen: Sie stammt aus der Zeit, als die Wellen um einen neuen Standort hochschlugen und die Bürgerinitiative Stëmm vu Bouneweg gegen einen festen Standort am Hauptbahnhof mobil machte. „Ich wollte den Gegnern des Projektes keine weitere Munition liefern“, sagt Monika Graser nachdenklich. Vielleicht habe sie etwas zu lange mit angesehen, wie sich die Bedingungen im Container trotz Generalüberholung und Personalverstärkung rapide verschlechterten. „Meine Mitarbeiter wollen nicht nur Spritzen tauschen. Es ist sehr frustrierend, wenn man aus Sicherheitsgründen sogar rudimentäre Hilfsangebote zurückschrauben muss.“
Die Standortfrage ist noch immer nicht geklärt, das Urteil wird für Februar erwartet. Immerhin wurde die dicke Luft zwischen Belegschaft und Verwaltungsrat bereinigt: Man habe ein konstruktives Treffen gewhabt, sagt Graser. Gilles Rod zeigt Verständnis für den Frust seiner Mitarbeiter: „Das ist mit Sicherheit einer der schwierigsten Bereiche der Sozialarbeit, denn nachhaltige Hilfe ist bei der Klientel selten möglich“, so der Psychologe. Dass seine Parteizugehörigkeit, Rod ist Mitglied bei den städtischen Grünen, ihn zahm in der Kritik gemacht hätte, lässt er nicht gelten: „Uns sind als Asbl die Hände gebunden. Wir haben wiederholt auf die Lage aufmerksam gemacht.“ Die Mitarbeiter hätten den falschen Adressaten für ihren Brief gewählt: Immerhin habe die Stadt schnell geholfen, um den heruntergekommenen Containerbau zu renovieren, und auch mit dem Gesundheitsministerium arbeite man gut zusammen. Die Stadt hat die Kosten für neue Büroräume, die Renovierung (122 300 Euro) sowie für das Drehkreuz (41 000 Euro) übernommen, das Ministerium hat das Tox-In-Personal aufgestockt.
Mehr Personal allein aber wird das Problem nicht lösen. „Echte Entlastung kann es nur geben, wenn andere Strukturen Drogenabhängige aufnehmen und endlich mit der zugesagten Dezentralisierung ernst gemacht wird“, betont Rod. Diese Entscheidung liegt aber nicht bei ihm. Gerüchte, wonach in Ettelbrück ein Drogenkonsumraum entstehen soll, bestätigt Alain Origer nicht. Das Regierungsprogramm sieht, für den Fall, dass in Esch keine Lösung gefunden wird, eine Fixerstuff in der Nordstad vor, was bei den politisch Verantwortlichen sogleich für Nervosität sorgte. Laut Origer gehe es im Norden aber eher darum, ein Spritzentauschprogram auf die Beine zu stellen. Die Stadt Esch hatte im Dezember prinzipiell grünes Licht für eine Fixerstuff gegeben. Bis die kommt, wird aber noch viel Wasser die Alzette hinunterlaufen. Man wolle zunächst das Nachtasyl in der Rue du Quartier aufbauen, so die LSAP-Sozialschöffin Vera Spautz im Land-Gespräch. Das Projekt zieht sich schon über Jahre hin, wie so oft, wenn es um Randgruppen geht. Anwohner fürchteten Belästigung und die Abwertung des Quartiers. Mit dem Ministerium gab es Meinungsverschiedenheiten bei der Vorgehensweise und der Finanzierung: Während Esch Drogensüchtige gemeinsam mit anderen Obdachlosen unterbringen will, plädierte das Ministerium zunächst für eine Trennung beider Gruppen. Nach langem Tauziehen wurde man sich schließlich doch einig. Die Stadt Esch stellte den Bauplatz zur Verfügung, die Kosten für den Bau übernimmt der Staat.
Für eine Fixerstuff aber ist der Bauplatz ohnehin zu klein. Und einen neuen zu finden, dürfte sich als nächste Hürde erweisen. Hinter vorgehaltener Hand machen im Rathaus Einschätzungen die Runde, selbst eine rot-grüne Stadtregierung werde ein solch heißes Eisen nicht vor den Wahlen anpacken. Die Ankündigung der Sozialschöffin, man wolle „kein Provisorium“ und suche einen definitiven Standort, könnte den Skeptikern Recht geben: Ein Provisorium kann man unwilligen Bürgern vielleicht noch erklären, aber die Aussicht darauf, die Struktur dauerhaft in der Nachbarschaft erdulden zu müssen? Der massive Widerstand gegen eine definitive Struktur in der Hauptstadt verheißt nichts Gutes. Das Ministerium könnte auch mit einer vorübergehenden Lösung leben: „Wir können nicht mehr ewig warten“, appelliert Origer an die Einsicht der Politiker.
Auf die Dauer wird die Stadt nicht darum herumkommen, mehr für ihre Süchtigen zu tun. Rund ein Viertel der Nutzer des Tox-In reist aus dem Süden an. Esch steht also in der Pflicht. „Wir wissen das und werden unsere Verantwortung übernehmen“, verspricht Vera Spautz. Auf Land-Nachfrage räumt sie jedoch ein: Eine Frist, bis wann man geeignete Objekte finden will, gibt es nicht.
Ein As im Ärmel bleibt dem Gesundheitsministerium noch, theoretisch jedenfalls: Als in Saarbrücken der Drogenkonsumraum überzulaufen drohte, wurde anreisenden Franzosen der Zugang verwehrt. Ähnlich verfahren niederländische Städte. Wenn die Hauptstadt sich weigern würde, die Süchtigen anderer Re-gionen weiter mit zu versorgen, müsste sich der Süden dem Problem stellen. Sehr realistisch ist das Szenario derzeit aber nicht. „Dann riskieren wir, wieder mehr Drogenabhängige in den Straßen zu haben. So weit wollen wir nicht gehen“, sagt Alain Origer, ohne die Option völlig auszuschließen. Aber ob der LSAP-Gesundheitsminister seinen Parteikollegen und seinen Wählern das wirklich antun würde?