In seinem künstlerischen Schaffen untersucht Rainier Lericolais das menschliche Sehen, oder vielmehr das Übersehen. Er zeigt uns Dinge und Prozesse auf, die im Alltag nicht sichtbar sind, sich dem Begreifen entziehen oder einfach übersehen und überhört werden. Um den Blick auf das Verborgene zu lenken, nutzt er eine breite Palette an Techniken – Skulpturen aus Karton beispielsweise, Abguss von Wasser, Hinterglasmalerei oder Fotografien von Bildschirmen die sich ausschalten. Den Inhalt generiert er aus kunsthistorischen, lyrischen, filmischen oder musikalischen Bezügen. Die Galerie Nosbaum Reding widmet noch bis zum 12. Mai seinen neuen Werken eine kompakte Ausstellung.
Zeichnung und Musik zählen zu den Hauptinteressethemen von Lericolais (1970 geboren in Châteauroux). Die Zeichnung wird in seine Arbeiten in ihre vielschichtigen Facetten dekliniert, und ihre Potentiale treten zum Vorschein, ohne dass der Künstler von einem Bleistift Gebrauch macht. Neben seiner Arbeit als bildender Künstler ist er zudem als professioneller Musiker kreativ tätig und bedient sich hierbei hauptsächlich der Technik des Sampling, die musikalische Klänge auf dem Bildschirm visualisiert und ihm erlaubt, den Ton zur Zeichnung werden zu lassen. Die musikalische Dimension interferiert immer mit seinen Kunstwerken. Genau wie Töne, die verklingen sobald man sie vernommen hat, thematisieren die visuellen Arbeiten die Vergänglichkeit. Auf oft vielfältige Weise versucht Lericolais den Prozess des Aufzeichnens von Gedanken und der im Gedächtnis hinterlassenen Spuren festzuhalten und widerzuspiegeln. Durch die heterogene und neuartige Qualität seiner Werke gelingt es Lericolais, neue Bilder in unserem Gedächtnis zu erzeugen.
Die Ausstellung in der Galerie Nosbaum Reding zeigt insbesondere Werke, die sich mit dem Prozess des Abdrucks und des Transfers befassen. Ausgestellt sind mehrere Hinterglasmalereien mit Frauenporträts, Bilder mit kohlschwarzen Hintergründen, aus denen feine weiße Spiralformen hervortreten, und auf den ersten Blick geometrisch wirkende Wandskulpturen. Die Wirkung der Farbe tritt bei der Hinterglasmalerei, mit der schon Künstler wie Paul Klee experimentierten, besonders raffiniert hervor. Die halb nackten weiblichen Figuren lassen durch die geometrischen Formen und die kühlen blauen und grauen Töne auch an einen El Lissitzky denken.
Interessanter sind zweifelsohne die minimalen und geometrischen Objekte aus braunem und schwarzem Holz, die wie Regale wirken. In das Holz sind Aufnahmegeräte wie Musikkassetten, VHS Kassetten oder Minidisks integriert, als ob das Kunstwerk etwas abspielen oder aufnehmen wolle. Diese etwas älteren Aufnahmemedien verweisen auf die Kurzlebigkeit der Technik, insbesondere der Tontechnik, aber auch darauf, dass überholt geglaubte Dinge wieder wichtig werden und zurückkommen können, wie die Kassette, die heute im Sinne der Mikro-Ökonomie genutzt wird.
Lericolais kombiniert dieses Material mit literarischem Text oder Noten einer Partitur. Es ist kein Zufall, dass er hierfür auf Bücher wie Le plan de l’aiguille des Schweizer Schriftstellers Blaise Cendrars oder Morels Erfindung des argentinischen Literaten Adolfo Bioy Casares zurückgreift. In letzterem schildert Casares einen Gesetzesflüchtigen, der auf einer verlassenen Insel Zuflucht sucht und dort auf eine Gruppe Menschen trifft, die Woche für Woche die gleichen Aktionen vollziehen. Der Protagonist entdeckt, dass es sich hierbei lediglich um Abbildungen von Menschen handelt, die der Wissenschaftler Morel durch eine komplexe Maschine zu verewigen sucht. Das Buch von Casares mit seiner Maschine, die die Menschen zwar aufzeichnen, aber nur ohne Substanz wiedergeben kann, gilt als Vorreiter der lateinamerikanischen Sciencefiction.
Die Referenz im Werk von Rainier Lericolais unterstreicht dessen eigene Analyse von Zeit und Zeitlosigkeit, aber auch das absurde Streben, den Tod durch Technik übergehen zu wollen. Gerade in einer digital vernetzten und schnelllebigen Welt spielen Begriffe wie Zeit und Transfer und ihr Verständnis eine wichtige Rolle. Die Ausstellung von Rainier Lericolais kann als künstlerischer Beitrag dieser Analyse gesehen werden und setzt das Kreative dem Technischen entgegen.