Hat die niederländische EU-Präsidentschaft nichts anderes zu tun, als sich damit zu befassen, wie die europäischen Staats- und Regierungschefs 2019 verhindern können, dass die EU-Parlamentarier zum zweiten Mal ein Spitzenkandidatenrennen veranstalten, dessen Sieger quasi automatisch EU-Kommissionspräsident wird? Sind entsprechende Meldungen nur eine Seifenblase, um in Großbritannien bei dem einen oder anderen EU-Skeptiker noch Eindruck zu schinden und ihn oder sie vielleicht doch noch dazu zu bewegen gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU zu stimmen?
Richtig ist, dass das Europäische Parlament im vergangenen November einen Gesetzesvorgang mit 315 gegen 234 Stimmen bei 55 Enthaltungen in Gang gesetzt hat, auf den der Rat reagieren muss. Das Europäische Parlament ist gemeinhin ein Parlament, das keine Gesetze einbringen darf. Dieses Privileg steht ausschließlich der EU-Kommission zu. Es gibt allerdings eine Ausnahme. Das EU-Parlament hat das Recht einen Gesetzesvorschlag zur Änderung der Prozeduren für die Europawahl einzubringen. Der Europäische Rat muss sich mit diesem Gesetzesvorschlag befassen. Er tritt nur in Kraft, wenn der Rat einstimmig zustimmt. Das Gesetz stammt aus dem Jahr 1976, wurde 2002 zuletzt verändert und garantiert keine gleichen Wahlbedingungen. Es gibt dringenden Reformbedarf. So schwankt das Wahlalter zwischen 18 und 25 Jahren. Die Prozenthürde, ab der Stimmen für die Sitzverteilung gezählt werden, liegt zwischen 0 und 5 Prozent. Einige Länder haben geschlossene Kandidatenlisten ihrer Parteien, andere können Kandidaten präferieren und wieder andere können Stimmen von einer auf eine andere Liste übertragen. Es ist nicht festgelegt, wie viele Tage oder Wochen vor der Europawahl die nationalen Wahllisten vorliegen müssen. Jeder Mitgliedstaat hat seine eigenen Gesetze, einige Mindeststandards müssen eingehalten werden.
Richtig ist aber auch, dass das Europäische Parlament in seinem Gesetzentwurf die Spitzenkandidatur für den EU-Kommissionspräsidenten formalisiert. Jede Parteienfamilie soll sich auf einen Spitzenkandidaten einigen, der europaweit gewählt werden kann und der, wenn gewählt, auch einen Sitz im Europäischen Parlament erhält. Der Kandidat mit den meisten Stimmen würde dann vom neuen EU-Parlament zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt. Würde der Rat diesem Gesetzesentwurf zustimmen, würde er sein verbrieftes Recht, den EU-Kommissionspräsidenten vorzuschlagen, aus der Hand geben. Damit ist nicht zu rechnen. Um das zu verhindern, so berichtete letzte Woche die Süddeutsche Zeitung, habe der Rat eine Arbeitsgruppe gebildet. Diese habe unter Federführung der niederländischen Präsidentschaft einen Bericht vorgelegt, mit dem alle Staaten bis auf einen einverstanden seien. Kernpunkt: Das Vorschlagsrecht den Mitgliedstaaten wieder zurückzugeben.
Damit zeichnen sich früh die Konturen eines Machtkampfes zwischen Europäischem Rat und EU-Parlament ab. Die europäischen Staats- und Regierungschefs hatten schon 2014 keine andere Wahl, als dem vom EU-Parlament ausgewählten Wahlsieger Jean-Claude Juncker zuzustimmen. Hätten sie es nicht getan, hätten sie sich vollständig demaskiert und ihr Gerede von einer europäischen Demokratie in aller Öffentlichkeit ad absurdum geführt. Man kann schon verstehen, dass es ihnen, die sich als die Mächtigen der EU fühlen, nicht schmeckt, dass sie eine so wichtige Prärogative verlieren sollen. Denn obwohl das EU-Parlament nach den gültigen Verträgen der Kandidatenauswahl des Rates zustimmen muss, war diese Klausel von den Mitgliedsländern doch immer nur als ein formaler Akt betrachtet worden, der das Auswahlrecht des Rates nicht beschneiden konnte. Der Gesetzesvorschlag des Parlaments würde das Kräfteverhältnis umdrehen.
Die Staats- und Regierungschefs sollten jedoch gewarnt sein. Wenn sie sich offen gegen einen Ausbau demokratischer Rechte und Gepflogenheiten auf europäischer Ebene positionieren, gießen sie Wasser auf die Mühlen der EU-Skeptiker. Das kann sich niemand leisten, der die EU erhalten will. Wer sie aber erhalten will, muss sie verändern hin zu mehr Demokratie. Schritte dahin sind lange überfällig und werden seit Jahrzehnten diskutiert. 2002/2003 gab es sogar, wer erinnert sich noch?, einen europäischen Verfassungskonvent. Gibt es keine demokratischen Fortschritte sollte sich die EU ehrlich machen und sich in eine reine Freihandelszone verwandeln.
Das Spannendste an der Gerüchteküche um die Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten ist der Umstand, dass das EU-Parlament offensichtlich einen Hebel gefunden hat, um den Rat vorzuführen. Obwohl letzterer einstimmig jedem Änderungsvorschlag zustimmen muss, gibt es noch einen dritten Faktor: die europäische Öffentlichkeit. Nur weil es sie, entgegen allen Unkenrufen, doch irgendwie gibt, konnte das Spitzenkandidatenkonzept in der Europawahl 2014 einigermaßen funktionieren. Wenn das Parlament einig ist, wofür es mehr als 315 Stimmen braucht, und die nächste Wahl zu einem Plebiszit über eine Spitzenkandidatur machen kann, muss der Rat entweder zustimmen oder er hilft mit, die heutige EU abzuwracken.