„Das Referendum ist kein geeignetes Mittel in einer parlamentarischen Demokratie, um komplexe Fragen zu beantworten. Wenn man Europa kaputt machen will, dann braucht man nur mehr Referenden zu veranstalten zu veranstalten. … Die Menschen antworten nicht auf sachliche Fragen, sondern erteilen ihren jeweiligen Regierungen Denkzettel.“ Dies sagte der Luxemburger Außenminister Jean Asselborn der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung nach dem verlorenen niederländischen Referendum über den Assoziationsvertrag zwischen der Ukraine und der EU. Hätten die Niederländer am 6. April für das Abkommen gestimmt, hätte er wahrscheinlich die Kraft der niederländischen und der europäischen Demokratie gelobt.
Der politische Teil des Vertrags ist seit Anfang des Jahres provisorisch in Kraft, die Handelsbestimmungen sollen zum 1. Januar 2016 gültig werden. Die Parlamente aller EU-Mitgliedstaaten haben für das Abkommen gestimmt, auch die beiden Parlamente der Niederlande. Wegen des Referendums haben die Niederlande den Vertrag jedoch noch nicht ratifiziert, er kann also nicht ohne weiteres in Kraft treten. Dass sich durch das Referendum Grundlegendes für die Ukraine ändern wird, gilt weitgehend als ausgeschlossen.
Asselborns Äußerung ist ein demokratischer Offenbarungseid. Seit wann dürfen Wähler ihren Regierungen keine Denkzettel mehr geben? Seit wann darf ein Volk nicht mehr in Referenden befragt werden, zum Beispiel zu so unkomplexen Sachverhalten wie einer Verfassung? Das Problem liegt woanders. Die Niederlande haben das Referendum ja gerade deshalb eingeführt, um der Bevölkerung das Gefühl zu geben – mehr sollte es gewiss nicht sein – sie könnten auf die Politik Einfluss nehmen. Und das gerade auch dann, wenn ein Gesetz schon angenommen worden ist. Hier liegt ein Problem. Gewöhnlich stimmt man über ein neues Gesetz ab und nicht darüber, ob ein gültiges bejaht wird oder nicht. Das zweite Problem liegt in der Schwelle von 30 Prozent Wahlbeteiligung. So kann leicht eine Minderheit über die Mehrheit triumphieren und was das noch mit Demokratie zu tun hat, das haben sich die Partij van de Arbeid und ihre Koalitionspartner in der Regierung offensichtlich nicht gefragt. Noch absurder: Das Referendum ist nicht bindend, sondern nur ein Rat an die Regierung. Wenn man dem Schein den Vorzug vor der Realität gibt, muss man sich nicht wundern, dass die Sache schief läuft. Als erstes wird nun darüber nachgedacht, die 30-Prozent-Schwelle zu erhöhen.
So weit, so schlecht. Als sich abzeichnete, dass es eine Mehrheit gegen das Assoziationsabkommen mit der Ukraine geben würde, saß die Regierung um Mark Rutte in der Falle. Sie hatte nicht den Mut zu sagen, wer das Abkommen wolle, solle doch bitte zuhause bleiben, sondern sie musste, um des demokratischen Deckmäntelchens willen, dazu aufrufen, für das Abkommen zu stimmen. Das hat den Nein-Sagern zur EU, um was anderes ging es den Gegnern auch offiziell nie, erst über die 30 Prozent-Hürde geholfen. Sagenhafte 0,006 Prozent der europäischen Wahlbevölkerung haben gegen das EU-Ukraine-Abkommen gestimmt. Dumm gelaufen ist in dieser Situation allenfalls ein verniedlichender Euphemismus. Mark Rutte steht in den Niederlanden und der EU ohne Hosen da.
Das ist peinlich, weshalb die niederländische Regierung diese Woche ihre Entscheidung lieber auf den Herbst vertagt hat. Laut der Tageszeitung De Volkskrant hat Rutte vier Möglichkeiten. Erstens wird an den Vertrag eine Erklärung angehängt, dass die Ukraine für lange Zeit keine Beitrittsperspektive hat. Das ist geschenkt, denn die hat sie so oder so nicht. Zweitens könnte der Vertrag sozialer gemacht werden, obwohl niemand so recht weiß, was das bedeuten könnte. Der politische Teil könnte ganz gestrichen werden, so dass nur ein reines Handelsabkommen übrig bliebe. Alles, was mit einer Unterstützung der Demokratie in der Ukraine zu tun hätte, würde fallen gelassen. Drittens könnte der Paragraf 10 gestrichen werden, der eine militärische Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine benennt. Dann müsste der Vertrag wie in zweitens nochmal durch alle nationalen Parlamente. Die Streichung der militärischen Zusammenarbeit wäre allerdings direkt gegen unmittelbare Sicherheitsinteressen der osteuropäischen EU-Mitglieder. Viertens könnte sich die EU stärker dafür einsetzen, dass die Korruption in der Ukraine zurückgedrängt wird. Das wäre sicherlich gut, aber da könnte man auch in Bulgarien, Rumänien, womöglich Italien und sicherlich auch in allen anderen EU-Ländern etwas tun.
Aus dieser kurzen Liste folgt, dass es für Mark Rutte keinen Weg gibt, mit dem er sein Gesicht vollständig wahren könnte. Auf die Möglichkeit, einfach das Votum zu ignorieren – was rechtlich möglich und auch demokratisch wäre – und laut und deutlich zu sagen, warum man bei seiner Meinung bleibt und das Assoziationsabkommen trotz des Votums ratifiziert, kommt niemand. Statt für ihre Überzeugung zu kämpfen, läuft nicht nur die niederländische Regierung dem diffusen Volkswillen einer Minderheit hinterher. Mark Rutte betont lautstark, dass er nicht in der Europafahne schlafe.
Angela Merkel, François Hollande, David Cameron und all die anderen europäischen Staats- und Regierungschefs sind aber kein Deut nicht besser. Zu lange haben sie Europa für ihre Interessen instrumentalisiert. Wenn die EU mehr ist als ein gemeinsamer Markt und wenn sie die Werte symbolisiert, für die alle stehen, darf man schon etwas mehr EU-Enthusiasmus von den Politikern erwarten. Wenn die nationalen Eliten Europa nicht lieben, können sie schlecht verlangen, dass es das Volk tun soll.