Am Dienstagmorgen flippte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Europaparlament (EP) aus. „Lächerlich, sehr lächerlich“, nannte er das Europaparlament, weil kaum 30 Abgeordnete angetreten waren, um die Bilanz der maltesischen Ratspräsidentschaft zu hören, einschließlich Bericht über die Fortschritte auf der Suche nach einer Lösung in der Flüchtlingskrise. Für Angela Merkel oder Emmanuel Macron hätte es sicher ein volles Haus gegeben, beschwerte sich Juncker über die Respektlosigkeit gegenüber dem maltesischen Premierminister Joseph Muscat. EP-Präsident Antonio Tajani zeigte sich entrüstet über den Sprachgebrauch. Dabei hatte Juncker ganz offensichtlich Recht.
Am Dienstagnachmittag flackerten auf den Bildschirmen im Luxemburger Parlament vor der Debatte über die Folgen des Austritts Großbritanniens aus der EU Bilder der jüngsten Visite von Antonio Tajani – „Europa ist auf dem wichtigen Weg“. Der demokratische Abgeordnete André Bauler ließ sich von seinen Mitarbeitern in Rednerpose am Pult ablichten, obwohl die Sitzung noch gar nicht begonnen hatte („Dann ass dat alt gemaach an ech hu jo di nämlecht Krawatt un wéi herno.“). Als er seinen Vortrag mit einer Analyse der Garderobe der britischen Königin zur Parlamentseröffnung begann, zeigte sich sogar auf den Gesichtern der Koalitionskollegen ein Hauch von Panik, sie könnten stundenlanger, sinnfreien Schwafelei ausgesetzt sein; und das wo doch gerade die Tour de France läuft. Denn mit konkreten Informationen und Positionen in Bezug auf Brexit sind bisher sowohl die Regierung als auch die Opposition sparsam umgegangen.
Das hat einerseits mit dem nur durch die ADR gebrochenen parteiübergreifenden Luxemburger Konsens zu tun, bedingungslos proeuropäisch zu sein, da der wirtschaftliche Wohlstand auf die europäische Integration zurückzuführen ist. Und liegt andererseits daran, dass die europäische Desintegration nun interessante wirtschaftliche Perspektiven öffnet, „Opportunitäten“. Diese allzu schamlos nutzen zu wollen, stünde aber nicht nur im Widerspruch mit der bedingungslosen proeuropäischen Attitüde, sondern auch mit den Rifkinschen Prinzipien, auf Sharing Economy statt auf ungehemmtes Wirtschaftswachstum zu setzen. Daraus ergibt sich ein Schlingerkurs voller Widersprüche, den man bestenfalls als bewussten Verzicht auf eine Strategie bezeichnen könnte.
So formte sich am Dienstag trotz der von Laurent Mosar eingebrachten Motion zur Bildung einer besonderen Brexit-Anlaufstelle im Finanzministerium ein neuer Konsens, dem auch die CSV zustimmt. Zwar will man weiterhin enge Wirtschaftsbeziehungen zum Vereinigten Königreich unterhalten. Aber die Briten sollen nach ihrem Austritt aus der EU keinesfalls besser gestellt sein als andere EU-Staaten. Deshalb sollen die britischen Finanzdienstleister den europäischen Pass nicht behalten dürfen, der ihnen erlaubt, ihre Dienstleistungen europaweit zu vertreiben. Sie sind willkommen, in Luxemburg eine Niederlassung zu gründen, von der aus sie ihr Europageschäft führen können. Doch da in Luxemburg Wohnungsnot und Grundstücksmangel herrschen, und man nicht weiß, wo man den Europasitz einer neuen Großbank einrichten, beziehungsweise wo man die Mitarbeiter ansiedeln sollte, sei es besser, nicht allzu „aggressiv“ Werbung für den Standort Luxemburg zu machen. Um aus dieser Not eine Tugend zu machen, verweisen Regierungsparteien und Opposition gerne darauf, wie taktlos es sei, wenn Konkurrenzstandorte, die über ausreichend Büro- und Wohnungsfläche verfügen, mit „wehenden Fahnen“ nach London zum Leichenschmaus fahren.
Diese Scheinheiligkeit geht so weit, dass es am Dienstag parteiübergreifend Aufatmen und Erleichterung gab, als Finanzminister Pierre Gramegna erklärte, statt mehrerer tausend umgesiedelter Arbeitnehmer in Frankfurt sei in Luxemburg in den kommenden Jahren nur mit „ein paar hundert“ zu rechnen. Dass dies angesichts einer Netto-Arbeitsplatzschaffung von 11 390 neuen Stellen 2016 eine geradezu lächerliche Zahl ist, schien ebensowenig zu stören, wie dass dies im Widerspruch mit den rezenten Bemühungen steht, die von der Vorgängerregierung eingerichteten Werbeagenturen Luxembourg for finance und Luxembourg for business zu reformieren, damit sie effizienter arbeiten und dafür sorgen, dass weiterhin mehrere tausend Stellen jährlich entstehen. Dass sich die Luxemburger Regierung um den Sitz der Europäischen Bankenagentur EBA beworben hat, die London ebenfalls nach dem Brexit verlassen muss, und die allein 159 Mitarbeiter beschäftigt, stieß dennoch auf allgemeine Zustimmung. Es gab von der Opposition auch mehr Kritik daran, dass die bisher unbestätigte Brexit-Arbeitsgruppe im Finanzministerium nicht mehr tage, als daran, dass die Regierung auf die Expertise von Geschäftsanwälten und Unternehmensberatern zurückgegriffen hat, um eine Brexit-Geschäftsstrategie zu erstellen. Denn Pierre Gramegna stellte am Dienstag klar: Die zusammen mit den Firmenberatern entworfene Strategie beziehe sich ausschließlich auf die Ansiedlung neuer Firmen in Luxemburg, nicht auf die Position Luxemburgs in den politischen Verhandlungen um den Rückzug Großbritanniens und die zukünftigen Beziehungen zur EU. Außenminister Jean Asselborn (LSAP) fuhr fort: Eine Luxemburger Position in diesen von Michel Barnier geführten Verhandlungen gebe es nicht, nur die gemeinsame europäische Position. Beziehungsweise, es sei nicht zweckdienlich, eine solche Position auf der „Place publique“ zu diskutieren oder festzulegen. Denn sonst, so die Überlegung, würden sich „rote Linien“ ergeben. Sind solche „rote Linien“ für die einzelnen nationalen Regierungen aber einmal klar definiert, schränken sie den Unterhändler in seinen Bemühungen ein, einen Kompromiss zwischen Großbritannien und der Rest-EU insgesamt zu finden. Und welche Regierung könnte bei Nicht-Einhaltung ihrer Bedingungen dem Verhandlungsergebnis zustimmen, ohne vor ihrer Wählerschaft das Gesicht zu verlieren?
So soll Barnier das Kunststück fertigbringen, erstens mit London die Modalitäten für den Rückzug zu verhandeln; alsbald „ausreichend Fortschritte“ in Bezug auf das Schicksal der EU-Bürger in Großbritannien und der Briten in Europa zu machen, die Rechnung für den Rückzug und die Grenzmodalitäten in Nordirland zu klären, damit danach über eine Art Freihandelsabkommen gesprochen werden kann, das alle unausgesprochenen Wünsche berücksichtigt. So ganz stimmt das natürlich nicht, denn wenn Staatsminister Xavier Bettel (DP) sagt, das „Level playing field“ müsse garantiert bleiben, und wenn Jean Asselborn sagt, das Budget, also die Rückzugsrechnung sei das „Wichtigste“, sind die Prioritäten klar gesetzt: Geld vor Bürgerrechten.
Dass die nationalen Parlamente über das Rückzugsabkommen nicht abstimmen dürfen, wenn ihm die Staats- und Regierungschefs in Brüssel zugestimmt haben, sondern später nur bei der Ratifizierung eines eventuellen Freihandelsabkommen mitreden dürfen, ist somit kohärent, entbehrt aber angesichts der Europa-feindlichen Stimmung, die überhaupt erst zum negativen Referendumsergebnis in Großbritannien geführt hat, nicht einer gewissen Ironie. Xavier Bettel führte dieses Referendumsergebnis auf die Duplizität der britischen Politiker zurück, die zuhause die Schuld für viele Missstände auf Brüssel abwälzen würden, während sie dort mitentscheiden würden. Als liberaler Staatsminister, der sich dem Schuldenabbau verschrieben hat, und seine Amtszeit mit einem Sparprogramm begann, kann er schließlich schlecht erklären, dass sich die EU-Bürger nicht nur einbilden, wegen der in den vergangenen Jahrzehnten in Brüssel beschlossenen Wirtschaftspolitik auf der Strecke geblieben zu sein. Ein Gegenmodell dazu forderte am Dienstag keine der Parteien. Vielleicht wollten sie der bevorstehenden Debatte über die Zukunft Europas nicht vorgreifen.
Die Mehrheitsparteien lehnten die von der CSV eingebrachten Anträge zur Einrichtung einer Brexit-Sonderstelle im Finanzministerium und zur regelmäßigen Information des Parlaments über den Fortschritt der Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien durch die Regierung ab. Außenminister Jean Asselborn teilte mitdass das Interesse an der luxemburgischen Staatsbürgerschaft nach dem Referendum deutlich angestiegen sei. Bis 2015 beantragten rund 60 Briten jährlich einen Luxemburger Pass. 2016 gingen 193 Anträge ein und in den ersten fünf Monaten dieses Jahres bereits 132. Rund 6 000 Briten leben in Luxemburgwährend 600 Luxemburger in Großbritannien leben und arbeiten. Darüber hinaus studieren derzeit 1 200 Luxemburger Studenten an britischen Unis. Sie zahlen derzeit die gleichen Studiengebühren wie britische Studenten; an den meisten Unis rund 9 000 Pfund jährlich. Nach dem Austritt Großbritanniens könnten ihnen Studiengebühren für Übersee-Studenten blühendie weitaus höher sind. In Oxford zahlen sie beispielsweise Studiengebühren zwischen 15 755 und 23 190 Pfund und College-Gebühren von 7 350 Pfund Sterling.