Die aktuellen Zahlen sind beeindruckend. Die ehemaligen alten Herren der Welt und die ehemaligen neuen Herren der Welt dominieren mit gerade noch etwas mehr als zehn Prozent der Weltbevölkerung noch immer die Weltwirtschaft. Gemeinsam stehen sie für fast die Hälfte des Weltbruttosozialprodukts und fast ein Drittel des Welthandels. Ihre Wirtschaftsbeziehungen sind die mit Abstand integriertesten der Welt. Die USA investieren dreimal so viel in Europa wie in ganz Asien. Die EU investiert in den USA achtmal so viel wie in Indien und China zusammen. 2011 exportierte die EU Waren oder Dienstleistungen für 370 Milliarden US-Dollar in die USA, umgekehrt waren es 270 Milliarden.
Muss man, bei so viel Erfolg, das politische Wagnis eingehen ein Freihandelsabkommen auszuhandeln? Ja, man muss! Und zum ersten Mal ist die kritische Masse an führenden Politikern, die ein solches Abkommen befürworten, auf beiden Seiten des Atlantik erreicht, so dass im Juni, so ist es geplant, die Verhandlungen beginnen können. Am 11. Februar hat eine hochrangige gemischte Arbeitsgruppe ihren Abschlussbericht über Ziele und Möglichkeiten einer EU-amerikanischen Freihandelszone vorgelegt. Am 12. Februar hat sich US-Präsident Obama in seiner Rede zur Lage der Nation kurz aber deutlich für die Aufnahme von Verhandlungen ausgesprochen und am 13. Februar haben die Präsidenten Barack Obama, José Manuel Barroso und Herman Van Rompuy in einem gemeinsamen Statement ihren Willen bekundet, dies auch zu tun. Der Europäische Rat soll noch im März das Mandat für die Verhandlungen offiziell erteilen.
Die Arbeitsgruppe schlägt vor, die schon bisher niedrigen Zolltarife ebenso zu streichen wie allgemeine Handelshemmnisse und -barrieren. Bei Normen und Regulierungen soll die Kompatibilität deutlich erhöht werden. Nichttarifäre Handelshemmnisse sollen in allen Kategorien gestrichen oder zumindest stark reduziert werden. Für den globalen Handel sollen gemeinsam Standards, Regeln und Prinzipien entwickelt werden. EU-Handelskommissar Karel De Gucht hat in einer Rede im Dezember darauf hingewiesen, dass selbst die Abschaffung der schon bisher niedrigen Zölle, sie liegen durchschnittlich zwischen drei und vier Prozent, den Unternehmen Kostenerleichterungen im Millionenbereich bringen. Der weitaus wichtigste Punkt ist jedoch der erklärte Wille der USA und der EU in der Setzung von Standards zusammenzuarbeiten. Gemeinsam haben sie genug Gewicht, technische und andere Standards auf dem Weltmarkt auch in Zukunft durchzusetzen. Wer diese bestimmt, hat einen langfristig wirksamen wirtschaftlichen Vorteil.
Dennoch ist es völliger Unsinn, in einer engeren Verbindung des Westens ein Abwehrbündnis gegen China zu sehen. Auch das Konzept westlicher Werte, die es zu verteidigen gelte, sollte man mit Vorsicht genießen. Asien hat das für sich schon versucht und hat damit in der Asienkrise der 1990-er Jahre spektakulär Schiffbruch erlitten. Seitdem spricht niemand mehr von asiatischen Werten, die dem Westen überlegen seien. Es kommt nicht darauf an, China klein zu halten. Im Gegenteil, je wohlhabender China, Indien und viele andere Staaten werden, desto besser für die Welt. Worauf es allein ankommt, ist die Fähigkeit sich an neue Verhältnisse anzupassen. Oder um es mit Charles Darwin zu sagen: Weder die stärkste noch die intelligenteste Art überlebt, sondern die anpassungsfähigste. Eine atlantische Freihandelszone wäre in einer Welt, die sich fundamental ändert, ein Akt der Selbstbehauptung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Anpassen an neue Verhältnisse müssen sich Europa ebenso wie die USA. Zurzeit brauchen beide dringend Wachstum, deshalb ist der Moment günstig. Ein halbes Prozent jährliches Wachstum soll für Europa herausspringen, 0,4 Prozent für die USA. Amerika braucht ein starkes Europa, um selbst stark zu sein, aber es könnte auch gemeinsam mit China die neuen Standards für den Welthandel setzen, sollten sich die Europäer verweigern. Europa hat diese Macht nicht, gegen Amerika kann es nicht handeln, selbst wenn der eigene Markt größer ist. Gefahr droht vor allem in der Landwirtschaft. Die USA wollen Marktzugang für hormongepäppeltes Rindfleisch und gentechnisch erzeugte Nahrungsmittel. Die USA fürchten interessanterweise, dass ihre hohen Standards bei der Lebensmittelerzeugung von den Europäern unterlaufen werden könnten. Beide Wirtschaftsblöcke könnten einzelne Sektor- oder Länderinteressen über das Gesamtwohl stellen. Europa könnte versucht sein, sich in ein ökotopisches Biedermeier einzumauern, in ein europäisches Paradies gegen die Schrecken der Welt. Nur dass Paradiese die unangenehme Eigenschaft haben, verloren zu gehen.
Die Verhandlungen sollen sehr schnell abgeschlossen werden. EU und USA können auf zahlreiche andere Freihandelsabkommen aufbauen und vielfach deren Regelungen übernehmen. Auf Wunder freilich sollte niemand hoffen. De Gucht erwartet einen jahrelangen Prozess. Für die EU wäre eines noch wichtiger als die vorteilhafte Positionierung im Welthandel des 21. Jahrhunderts: Ein Abkommen mit den USA würde für lange Zeit die Gefahr bannen, dass sich die Union zu sehr mit sich selbst beschäftigt und der schnellen Entwicklung der Welt nur zuschaut, statt sie kraftvoll mitzugestalten. Splendid isolation wird hierzulande oft als englisches oder amerikanisches Phänomen betrachtet. Bauchnabelschau ist aber eine der am meisten unterschätzten Gefahren für Europa. Die EU muss sich für die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts stärker öffnen, wenn sie auch in Zukunft erfolgreich sein will. Ein Freihandelsabkommen mit den USA wäre dazu ein Meilenstein.