Es sollte ein Weckruf sein. Als eine Kindergartenleiterin aus dem Norden auf Facebook kürzlich per offenen Brief Alarm schlug, weil sie und Mitarbeiterinnen immer häufiger mit aggressiven Kindern konfrontiert seien, erfuhr sie eine Welle der Zustimmung. Weitere Erzieher, Lehrer, Psychologen und Gewerkschaften warnten unisono, die Zahl der verhaltensauffälligen Kinder hierzulande nehme zu. Auch Erziehungsminister Claude Meisch (DP) schaltete sich ein und beteuerte, sich der Problematik bewusst zu sein und er betonte, wie viel der Staat in die Betreuung und Begleitung verhaltensauffälliger Kinder investiere.
Dabei geriet aus dem Blick, ob die Gewalt und Aggression in Kindergärten und auf Schulhöfen tatsächlich zunimmt. Bei dem Bevölkerungswachstum scheint es plausibel, wenn die Zahl von Kindern mit problematischem Verhalten ebenfalls steigen würde. Aber dafür, dass ein regelrechtes Gewaltklima in Kindergärten und Tageshorten herrscht, gibt es derzeit keine belastbaren Daten. Gleichwohl investiert der Staat in Speziallehrer und Erziehungspersonal, in Mediatoren für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, in Kompetenzzentren für verhaltensauffällige Schüler, in geschlossene Heime, und, ginge es nach dem grünen Justizminister Félix Braz, möglicherweise bald in ein weiteres Jugendgefängnis, um diesen befürchteten Fehlentwicklungen Herr zu werden.
Nicht nur bei angeblich verhaltensauffälligen Kindern ist der Staat omnipräsent. Schon unter der vorigen Regierung wurde das Kinderbetreuungsangebot massiv ausgebaut. Familien- und Gleichstellungsministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) begründete die Förderung der staatlichen Kinderbetreuung damals damit, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern und so beiden Eltern, Mutter und Vater, zu ermöglichen, einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Die Frauenerwerbstätigkeit, besonders die von luxemburgischen Frauen aus Haushalten mit höherem Einkommen, lag vergleichsweise niedrig, niedriger als bei ihren portugiesischen Gegenüber. Mit üppigen Subventionen sorgte ausgerechnet die CSV, die stets die klassische Kernfamilie in den Mittelpunkt ihrer Familienpolitik gestellt hatte, für einen Boom bei der Fremdbetreuung, der bis heute anhält und zwischenzeitlich dazu führte, dass private Betreiber wie Pilze aus dem Boden schossen – manche nur, weil sie das große Geld witterten.
Weil sich darunter also manch schwarzes Schaf tummelte, läutete die Politik als nächste Etappe die Qualitätsoffensive ein. Seitdem wurden, mit dem Argument, die Bildungschancen für alle zu verbessern, Personalschlüssel und Aus- und Weiterbildung des Erziehungspersonals verbessert, pädagogische Leitlinien entwickelt. Eine Debatte darüber, wie, wann und wo Kinder zu verantwortungsvollen und zufriedenen Erwachsenen von morgen erzogen werden, fehlt, beziehungsweise es gibt sie allenfalls in kleineren Zirkeln, etwa an der Universität oder im Erziehungsministerium unter Beamten, die die vielen Gesetze und Regeln formulieren, die für mehr Qualität und Professionalität in der Branche sorgen sollen.
Wesentlicher Baustein hierfür ist der neu aufgelegte und kürzlich erschienene Nationale Rahmenplan zur non-formalen Bildung im Kindes- und Jugendalter. Er bildet die Grundlage für die inhaltliche und organisatorische Ausrichtung nicht bloß des Kinderbetreuungssektors, sondern auch von Jugendhäusern. Wer als Träger von der staatlichen Finanzierung per Dienstleistungsscheck profitieren will, muss seine Einrichtung entlang der im Rahmenplan formulierten Leitlinien organisieren und führen. Darin stehen in akademischem Deutsch entwicklungspsychologische und pädagogische Grundsätze: Etwa dass ein Kind aktiver Akteur seines Lernprozesses ist und dass die Aufgabe von Erziehern daher im Wesentlichen sein müsse, Situationen im Betreuungsalltag zu schaffen, in denen ein Kind sinnvolle und positive Lernerfahrungen sammeln kann. Anhand von Themenschwerpunkten, wie Gesundheit und Körperbewusstsein oder Naturwissenschaften, wird durchgespielt, wie solche Hilfestellungen aussehen könnten. Im Plan klingt das so: Kinder und Jugendliche sind „kompetente Individuen, welche als Ko-Konstrukteure von Wissen und Identität sowohl ihre eigenen Bildungsprozesse als auch die Lernkultur in non-formalen Einrichtungen aktiv mitgestalten“. Über die Rolle des Erziehungspersonals: „Pädagoginnen und Pädagogen sind Partnerinnen und Partner im Prozess der Ko-Konstruktion, die sich gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen auf kommunikative und kooperative Art Wissen und Kultur erschließen.“ Alltagssituationen seien „als Bildungsanlässe“ zu verstehen und „als Ausgangspunkt für die Kompetenzentwicklung von Kindern und Jugendlichen“ zu nutzen.
Ohne entwicklungspsychologische und bildungswissenschaftliche Vorkenntnisse sind solche Satzungetüme kaum zu verstehen. Und wie ist es wohl für Tageseltern, von denen viele außer einem Basiskurs keinerlei erzieherische Ausbildung haben und die meisten nicht einmal Deutsch können?
In dem in Zusammenarbeit mit dem Charlotte-Bühler-Institut für praxisorientierte Kleinkindforschung erstellten Rahmenplan stehen außerdem Leitlinien zur frühen sprachlichen Bildung. Der kindliche Spracherwerb wird darin beschrieben, als „ein ausgesprochen komplexer und langwieriger Prozess, der eng mit der sozialen, emotionalen, motorischen und kognitiven Entwicklung der Kinder verbunden ist“. Dabei verläuft der Prozess von Kind zu Kind verschieden, jedes Kind hat sein eigenes Lerntempo: Während das eine schon ganze Wörter spricht, brabbelt das andere noch Unzusammenhängendes. Kinderbetreuungseinrichtungen, die von staatlicher Subventionierung profitieren wollen, sind gehalten, 20 Gratisstunden Spracherziehung in Luxemburgisch und Französisch anzubieten. Dafür muss mindestens ein Erzieher präsent sein, der sehr gut Französisch und je eine, die sehr gut Luxemburgisch spricht, und zwar auf dem Niveau eines C1 laut Europäischem Referenzrahmen, das sind annähernd muttersprachliche Kenntnisse. Denn, so die Autoren: „Entscheidend für das Gelingen einer kindorientierten und nachhaltigen sprachlichen Bildung sind nicht zuletzt die pädagogische Qualifikation und das bewusste Sprachverhalten der Erzieherinnen und Erzieher, die täglich in den Einrichtungen mit den Kleinsten im Umgang sind.“ Deshalb brauche es „Fachkräfte, die ein profundes Wissen über den kindlichen Spracherwerb unter ein- und mehrsprachigen Bedingungen“ haben.
Auch die geplanten Mini-Crèches müssen diese Auflagen erfüllen, um die 20 Gratisstunden abrechnen zu können (siehe Kasten). Tagesmütter sind davon ausgenommen, weil der Staat davon ausgeht, dass sie als Einzelpersonen ohne Zusatzqualifikation die Anforderungen nicht erfüllen, dabei wäre theoretisch denkbar, dass eine Tagesmutter fließend zwei Sprachen spricht und diese gezielt mit den Kindern einsetzt und übt: Französisch am Mittagstisch oder Luxemburgisch beim Spielen beispielsweise. So wie das ja auch in einigen Weiterbildungen zur Mehrsprachigkeit vermittelt wird. Zugleich betonen die Autoren, dass es eben nicht um klassischen Sprachenunterricht mit Vokabeln und Grammatik gehe, sondern beide Sprachen „alltagsbezogen und spielerisch“ vermitteln werden sollen, und am besten auch die Herkunftssprachen der Kinder zu berücksichtigen sind; Singen und Reimen in mehreren Sprachen, als Vorbereitung auf die sprachliche und kulturelle Vielfalt Luxemburgs.
Und trotzdem wird man bei der Lektüre den Eindruck nicht los, dass so die Krippe mehr und mehr zum Lernort wird, an dem möglichst früh die Weichen gestellt werden, (Klein-)Kinder gezielt lernen sollen und somit als Folge die Vorbereitung auf schulische und gesellschaftliche Erwartungen immer weiter in die Kindheit vorverlegt werden. Dabei bleiben Anforderungen und Leistungsdruck in der Schule gänzlich unhinterfragt, die selbst aufgrund überfrachteter Lehrpläne, veralteter Unterrichtsmethoden und überhöhten Sprachanforderungen in der Kritik steht, noch wird das eigentliche Paradox analysiert: dass nämlich eine unbeschwerte Kindheit bis vor kurzem eigentlich bedeutete, von solchen Bildungserwartungen ein paar Jahre verschont zu bleiben. Oder, wie es eine ehemalige Tagesmutter beschreibt, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will: „Es ist ein Widerspruch in sich, dass die non-formale Bildung einen Bildungsrahmenplan braucht.“ Sie hat ihren Job als Tagesmutter aufgegeben: „Die Anforderungen, die der Staat an uns stellt, werden immer höher, aber wie wir das alles leisten sollen und wer das bezahlen soll, sagt niemand.“
Die gestiegenen Anforderungen in der frühkindlichen Bildung beschäftigen offenbar zunehmend auch Eltern. Noch sind es – von populistischen Parteien zu ihren Zwecken aufgebauschte – Einzelmeldungen, wonach Mütter und Väter versuchten, ihr Kind der zweisprachigen staatlichen Erziehung zu entziehen, seien es ausländische Eltern, die nicht sehen, wozu ihr Kind Luxemburgisch lernen soll, wenn sie bald wieder aus Luxemburg fortziehen, oder auch luxemburgische Eltern, die Schul-Französisch in quälender Erinnerung haben und ihre Kleinen davon möglichst lange verschonen wollen. Längst haben konservative Gruppierungen das Unbehagen aufgegriffen: Mei Elteren, manner Staat heißt eine Gruppe auf Facebook, die gegen die staatliche Einmischung in Erziehungsfragen agitiert. Dahinter steht Famill 2000, ein Verein, der für die klassische Kernfamilie eintritt, mit der Mutter als Fürsorgende, und wo manch Unterstützer zum rechten Flügel der CSV zählt.
Aber nicht nur sie warnen davor; auch unter Psychologen und Erzieher, das zeigt der Brandbrief der Kindergärtnerin, geht die Sorge um, es mit der Fremdbetreuung und den hohen Anforderungen vielleicht zu weit zu treiben. Die Schlüsselfrage, wie viel Bindung ein Kind braucht, um zu einem selbstsicheren autonomen Menschen heranzuwachsen, und ob es diese Bindungsfähigkeit am besten im Kindergarten mit Gleichaltrigen, in überschaubaren Gruppen oder zuhause durch einen beziehungsweise beide Elternteile findet und aufbauen kann, ist berechtigt. Eine Antwort fällt hierzulande auch deshalb schwer, weil es bei allen Vorgaben kein anerkanntes Qualitätslabel der Einrichtungen gibt.
Mini-Krippe als Alternative?
Bisher gibt es zwei Typen der gewerblichen Fremdbetreuung: Da sind die privaten oder konventionierten Crèches und Maisons relaisdiesofern sie sich an die Vorgaben des nationalen Rahmenplans haltenüber Chèques service abrechnen können. Und da sind die Tageselterndas sind in erster Linie geringer qualifizierte Frauendie mit einer mehrtägigen Basisausbildung bis zu fünf Kinder gleichzeitig bei sich zuhause betreuen dürfenwenn sie sicherheitstechnische und pädagogische Vorgaben erfüllen und vom Staat anerkannt sind. Auch sie müssen sichum über die Dienstleistungsschecks abzurechnenan die Vorgaben des Bildungsrahmenplans haltenein pädagogisches Konzept vorweisen und sich regelmäßig von staatlichen Kontrolleuren überprüfen lassen.
Als dritte Möglichkeit soll es künftig Mini-Crèches für Kinder zwischen null und vier Jahren geben. Eine diplomierte Erzieherin und eine Tagesmutter könnten sich zusammenschließeneinen Raum mieten und dort bis zu elf Kinder gleichzeitig betreuen. So versucht der Staateine Lücke zu schließen: Gerade für die Bedürfnisse der ganz Kleinen sind kleine familiäre Gruppen eine Alternative zu den oft größerentrubeligen Crèches. Außerdem braucht nicht jede Gemeinde eine Maison relaisin entlegenen Regionen fehlen ausreichend Kinderum eine Einrichtung wirtschaftlich zu betreibenso dass Mini-Crèches dort wie eine gute Lösung scheinen. Mini-Krippen könnten flexiblere Öffnungszeiten anbieten als kommunalean Tarifverträge gebundene Strukturen und somit beispielsweise für Elterndie im Schichtbetrieb arbeiteninteressant sein.
Ob sich allerdings genügend interessierte Anbieter für diese neue Betreuungsform finden werdensteht auf einem anderen Blatt. Tagesmütter ergreifen den Betreuungsjob oftweil sie keine andere Ausbildung haben und weil sie bewusst daheim neben ihren Kindern weitere betreuen und so ein kleines Taschengeld hinzuverdienen können. Taschengeld trifft esdenn lukrativ ist der Betreuungsjob daheim schon lange nicht mehr: Seitdem die Kontrollen im Sektor strenger und zahlreicher sind und weil der Gesetzentwurf es Tageseltern verbieten willsich neben der Mini-Krippe als Tagesmutter zu arbeiten. Weil zudem die Betreuung nicht im eigenen Zuhause stattfinden darfsondern in einem Lokal externdas denselben Sicherheitsauflagen unterliegt wie eine herkömmliche Kinderbetreuungseinrichtungdürfte sich spätestens da manch Interessierte fragenob sich die Formel überhaupt rechnet. Tagesmütter klagen ohnehindass die Konkurrenz durch Maisons relaisinsbesondere seit Einführung der 20 Gratisstunden Sprachförderungdie sie nicht abrechnen dürfenimmer größer werde und ihr schwieriger zu begegnen sei. Wenn der Staat von ihnen verlangtimmer höhere Qualitätsstandards zu erfüllenBerichte und Konzepte zu schreibenWeiterbildungen zu besuchen und sich in punkto Spracherwerb fortzubildenwo bleibt dann noch Zeit für das Kind? ik