D’Land: Polly*, seit wann weißt Du, dass Du ein Mädchen bist?
Polly: Das hat angefangen, als ich noch klein war. Zum Beispiel hat mir meine Mama immer Kleidung für Jungen angezogen. Ich mochte das nicht. Kaum hatte sie sich umgedreht, habe ich sie wieder ausgezogen und stand in Windeln da.
Mutter: Anzeichen gab es früh. Lustig finde ich im Nachhinein, dass die Hebamme als Polly geboren wurde, als Geschlecht zunächst Mädchen ins Geburtsheft eingetragen hatte. Sie wurde oft für ein Mädchen gehalten. Mit drei Jahren hab ich sie ihre eigene Kleidung aussuchen lassen, weil ich den Aufstand vermeiden wollte, der jedes Mal kam, wenn ich die falsche heraussuchte. Ich habe dann nur noch geguckt: Ist die Kleidung wettertauglich oder nicht.
Haben Sie sich Rat gesucht?
Mutter: Polly wollte als Kind den ganzen Tag tanzen oder mit Puppen spielen. Die Kinderärztin, die ich damals zu Rate zog, sagte, das sei nur eine Phase. Es ist schwierig, sich in dem Alter zu äußern. Aber Pollys Verhalten war exzessiv, weil es eben kein Rollenspiel für sie war. Meine Mutter hatte ein Kostümkleid, das liebte sie abgöttisch. Was war das für ein Drama, wenn sie es ausziehen sollte! Ein Psychologe sagte, ich solle meine Tochter in ihrem Verhalten nicht bestärken, aber es auch nicht verbieten. Was heißt das im Alltag? Zum Glück fand ich nach längerem Suchen einen Psychologen, der Polly unterstützt hat. Bei dem sie nicht beweisen musste, wer sie ist, sondern der von vornherein das Wohl Pollys an erste Stelle gestellt hat. Das war sehr wichtig.
Weißt Du noch, wann Du das erste Mal ausdrücklich gesagt hast, Du bist ein Mädchen?
Polly: Eigentlich nicht.
Mutter: Erstmals klar formuliert hat sie es 2010, da war sie drei Jahre alt. Sie liebte das Buch Räuber Hotzenplotz und hat eines Abends, als ich ihr gute Nacht und schöne Träume wünschte, gesagt: ,Ich wünsche mir, dass Zauberer Zwackelmann mir eine Muschi zaubert.῾ Da wusste ich, das ist keine Phase oder nur kindliches Spielen mit Geschlechterrollen.
Was haben Sie unternommen und wie hat die Familie darauf reagiert?
Mutter: Ich hatte eine Reportage über ein Trans-Mädchen aus den USA gesehen. Die Parallelen zu Polly waren nicht zu übersehen. Dann habe ich mich ein halbes Jahr durchs Internet gelesen und schließlich eine Erklärung für Pollys Verhalten gefunden. Anschließend habe ich versucht mit dem Vater des Kindes und meiner Familie zu reden. Die erste Reaktion war Schock und Abblocken. Der Durchbruch kam erst, als Polly sich selbst erklärte.
Wie war das?
Polly: Ich habe an einem Abend, als die ganze Familie zusammen saß, ihnen gesagt, dass ich ein Mädchen bin und auch mit einem Mädchennamen angesprochen werden will.
Du gehst in die vierte Klasse. Wissen Deine Klassenkameraden über Dich Bescheid?
Polly: Die ganze Klasse weiß es. In der ersten Klasse hatte ich es meinen besten Freundinnen erzählt. Eine andere Freundin hat es dann in der Klasse herumerzählt. Das fand ich nicht gut.
Wurdest oder wirst Du öfters von anderen gehänselt wegen Deines Andersseins?
Polly: Ein Junge hat mal versucht, mich damit zu ärgern, indem er sagte, er habe das in der ganzen Schule herumerzählt, dass ich ein Junge sei. Da bin ich zur Lehrerin gegangen. Die hat mit uns beiden geredet und der Junge musste sich entschuldigen.
Mutter: Die Klassenlehrerin hat nach dem Zwangsouting direkt reagiert und mit der ganzen Klasse über das Thema gesprochen. Polly hat großes Glück, denn sie ist an einer Privatschule, an der Toleranz und Vielfalt großgeschrieben werden.
Haben Sie Pollys Transidentität gleich bei der Einschulung angesprochen?
Mutter: Nicht direkt. Ich habe das Anmeldeformular für sie als Mädchen ausgefüllt und am Ende war eine Rubrik, ob es bezüglich meines Kindes Besonderheiten gäbe oder sie auf besondere Unterstützung angewiesen wäre. Da habe ich ihre Identität angesprochen. Das war kein Problem. Polly wurde von Anfang an als Mädchen eingeschult und als solches behandelt. Auch ihre Zeugnisse werden auf ihren Mädchennamen ausgestellt.
Wie ist es mit alltäglichen Dingen wie zur Toilette gehen oder der Sportunterricht?
Polly: Ich benutze die Mädchentoilette wie die anderen Mädchen auch. Einmal waren wir für fünf Tage in einem Schwimmlager. Dort habe ich mich in einem Extraraum umgezogen. Das war aber kein Problem, weil die Mädchenumkleide direkt nebenan war.
Hast Du Freundinnen, die auch trans sind?
Ja, aber nicht in der Schule.
Mutter: Trakine e.V. wat zunächst eine Selbsthilfeinitiative von Eltern von minderjährigen Trans-Kindern und Jugendlichen. Die Vorsitzende, die ebenfalls ein Trans-Kind hat, hat das Netzwerk begonnen und daraus hat sich der Verein gegründet. Hier treffen sich Eltern und ihre Trans-Kinder.
Wie wichtig ist es, den Verein an Ihrer Seite zu haben?
Mutter: Enorm wichtig. So wusste ich, ich spinne nicht. Und Polly konnte erleben, dass sie nicht alleine ist, dass es andere Kinder gibt wie sie. Vieles wird einfacher, weil man Ratschläge und Tipps erhält und das Rad nicht jedes Mal neu erfinden muss. Die Gesellschaft reagiert immer noch oft sehr ablehnend. Zum Beispiel wird Eltern unterstellt, sie wollten das Geschlecht des Kindes bestimmen. Der Impuls käme gar nicht von den Kindern selbst. Ich und andere Eltern, die ihr Kind in seinem Trans-Sein unterstützt haben, wurden beim Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung angezeigt.
Haben Sie über medizinische Aspekte nachgedacht, die sich mit der Pubertät stellen können und mit Polly darüber geredet?
Polly: Ich möchte selbst dazu nichts sagen.
Mutter: In altersgerechter Form, ja. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht und ihr von Anfang an gesagt, in ihrem Bauch wird kein Baby wachsen, auch wenn Polly gerne Mutter wäre. Ich habe ihr erklärt, dass es bestimmte Eingriffe gibt, die sie vornehmen lassen kann, um ihr äußeres Geschlecht dem inneren anzugleichen. Aber es kommt eben keiner und zaubert einen neuen Körper.
Das klingt nach einer schwierigen Entscheidungsfindung. Wo holen Sie sich Rat?
Mutter: Das Netzwerk von Trakine e.V. hilft enorm weiter. Wir haben Ansprechpartner für solche Fragen im gesamten Bundesgebiet. Wir tauschen uns darüber aus, wer wie helfen kann und wer eher Steine in den Weg legt. Es sind ja im Grunde doch immer dieselben Fragen, die auftreten.
Was könnten Schulen besser machen?
Mutter: Allgemein ist es wichtig, dass Erzieher und Pädagogen in Kindergarten und Schule erfahren, dass es Trans-Kinder gibt. Wir hatten am Anfang im Kindergarten große Probleme. Damals wusste ich noch nichts über Pollys Hintergrund. Inzwischen bin ich informiert und kann sagen, was ich und Polly brauchen. Seitdem läuft es entspannter.
Hat Sie die Erfahrung mit Polly besonders geprägt?
Mutter: Ich bin nie eine gewesen, die alles nur hingenommen hat. Aber etwas leichter hätte es sein können. Für Polly würde ich mir wünschen, sie hätte weniger zu tragen, an Vorurteilen, an Hindernissen. Ich habe sie so erzogen, dass sie sagen soll, was sie will. Deshalb wirkt sie so selbstbewusst. Aber es gibt auch eine andere schwere Seite.
Die innere Zerrissenheit und die gesellschaftliche Diskriminierung führen bei Trans-Menschen dazu, dass sie häufiger depressiv werden.
Mutter: Depressionen, Suizidversuch, das haben wir alles vor der Schule durchgemacht. Das ist der Grund, warum ich mich schließlich für diesen akzeptierenden Weg entschieden habe. Wenn ein Kind mit einem Messer am Hals sagt, es wolle unter den gegebenen Umständen nicht mehr leben, versuchen Sie alles, damit das Leben für es erträglicher und gut wird. Polly hat sich in ihrem zarten Alter mit Themen auseinandergesetzt, mit denen andere Kinder erst sehr viel später konfrontiert werden. Sie ist nicht mehr unbeschwert. Darunter haben ihre schulischen Leistungen gelitten. Deshalb wird sie die vierte Klasse wiederholen.
Das heißt auch, eine neue Schule und damit neue Unsicherheiten?
Mutter: Ja, zwangsläufig. Sie wird neue Lehrer und neue Mitschüler bekommen und sich erneut überlegen müssen, ob sie sich outen will oder nicht. Wahrscheinlich kommt sie nicht darum herum, denn so etwas spricht sich immer herum. Aber ich erhoffe mir, dass sie dort Verlorenes aufholen kann. Und weil die neue Schule keine Ganztagsschule ist, wird sie hoffentlich mehr Zeit finden, zu spielen und das zu tun, was Kinder in ihrem Alter eben tun.