Als ein junger Geschichtsstudent der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Januar 2009 wissen wollte, wie eigentlich die damaligen Zeitungen über die sogenannte Luxemburgkrise im Jahre 1867 berichteten, stürzte er sich ins Nationalarchiv. Tagelang las er Meter für Meter die Mikrofilme der Zeitungen Courrier Du Grand-Duché de Luxembourg, L’Union und Luxemburger Wort, suchte nach entsprechenden Artikeln und fotokopierte passende Textstellen zur späteren Analyse. Nach rund einer Woche akribischer Recherche blickte er zufrieden auf das Geleistete, wohlwissend dass nun erst die eigentliche Auswertungsarbeit beginnen würde. Umso größer war die Ernüchterung wenige Monate später. Das Nationalarchiv hatte doch tatsächlich den Großteil der Zeitungen Luxemburgs vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs digitalisiert und frei zugänglich ins Internet gestellt. Darunter auch Courrier, L’Union und Wort. Alle Ausgaben waren nach Datum digital lesbar, Zitate konnte ohne weiteres mit einem Mausklick kopiert werden. Doch das Schlimmste: Es gab eine Schlagwort-Funktion. Sämtliche Artikel mit Inhalt zur Luxemburgkrise konnten mit einem Klick abgerufen werden. Der junge Geschichtsstudent kam sich alt vor und dachte: So muss sich wohl ein Weber nach der Erfindung der Webmaschine gefühlt haben oder ein Bauer, der sein Feld mit Pferd pflügt, nach der Erfindung des Traktors.
Digitale Hermeneutik Die persönliche Anekdote zeigt auf triviale Art, in welcher Form die Digitalisierung auch das Archivwesen sowie die Geschichtsforschung verändert. Historiker arbeiten längst nicht mehr nur mit physischen Quellen in Form von Papier, sondern mit digitalisierten oder digital born Quellen, die es nie in analoger Form gab. Diese Entwicklung ist nicht grundlegend neu: Bereits der Fotokopierer im 20. Jahrhundert hat den Umgang mit Quellen verändert, die Ursprungsquelle konnte bequem und nahezu beliebig vervielfältigt werden. Und wenn man so will, lässt sich die Entwicklung bis auf die Erfindung des Buchdrucks zurückführen. Doch die Digitalisierung im 21. Jahrhundert beschleunigt nicht nur diesen Prozess, sondern stellt auch grundlegend neue Fragen an das Archivieren von Quellen. So schrieb der Zeithistoriker Kiran Patel 2011 in einem Essay zu der digitalen Herausforderung der Geschichtswissenschaft: „Wer archiviert die SMS von Angela Merkel?“ Die Frage lässt sich natürlich auch auf Luxemburg übertragen: Wer archiviert eigentlich die SMS von Xavier Bettel?
Das Zentrum für Luxemburger Zeitgeschichte und digitale Geschichtswissenschaft, das C2DH (ausgesprochen: tziii, tuuu, diii, eitsch), hat sich auf solche Fragen spezialisiert. „Digitale Hermeneutik“ nennt der Leiter des Zentrums Andreas Fickers die kritische Reflektion darüber, wie die Geschichtswissenschaft durch digitale Daten, Methoden und Infrastrukturen geprägt wird. Denn die Digitalisierung geht weit über die Frage der Archivierung hinaus und umfasst sämtliche Bereiche der historischen Forschung: Archivierung, Recherche, Analyse und schließlich auch die Produktion von Wissen in Erzählungen. Laut Historiker Fickers hat die Geschichtswissenschaft diese Aspekte lange ignoriert. „Ein Fehler“, wie er behauptet. Denn die Welt ist ohne digitale Kompetenzen nicht mehr kritisch zu deuten.
Konservative Geschichtswissenschaft Fickers erinnert daran, dass auch heute noch an den meisten europäischen Universitäten die klassische Quellenkritik vermittelt wird, so wie sie schon Generationen von Historikern zuvor gelernt haben. Sprich: Wie plausibel sind Aussagen in Quellen, wer ist ihr Autor oder wie authentisch sind sie. Es sind die Grundlagen der historischen Forschung, die Historiker beherrschen müssen. Doch die digitale Wende erfordert ein Update der Quellenkritik. In der Gegenwart muss der Historiker laut Fickers wissen, wie Metadaten auszuwerten sind, wie Algorithmen oder Wayback-Maschinen funktionieren. Ohne diese Kompetenzen könne keine vernünftige Zeitgeschichte geschrieben werden. „Für Zeithistoriker sind in Zukunft Programmiersprachen wichtiger als Latein“, so der Leiter des Zentrums. Und das C2DH möchte einer neuen Generation von Studierenden dieses Handwerk beibringen, etwa durch Übungen auf der elektronischen Lernplattform Ranke2. Unterstützung erhält das C2DH seit diesem Herbst von Sean Takats vom Roy Rosenzweig Center for History and New Media. Der Experte der digitalen Geschichte erhielt die nötigen Gelder für einen Pearl-Lehrstuhl (rund drei Millionen Euro), um seine Forschung in Luxemburg weiterzuführen. Takates ist Gründer der weltweit benutzen Forschungsplattform Zotero und gilt als führender Wissenschaftler in digitalen Fragen. Es ist ein klares Zeichen, dass das C2DH im Bereich der digitalen Geschichte zur weltweiten Elite gehören will.
Dabei stellt Fickers generell fest, dass seine Zunft „doch eher konservativ“ ist. Als Goldstandard im Bereich der Qualifikationsarbeiten gilt weiterhin die klassische Monografie. Historiker publizieren am liebsten dicke Wälzer. Dabei gibt es unlängst neue Medien, um Geschichte erlern- und erfahrbar zu machen. Podcasts, Filme, Computerspiele oder auch digitale Ausstellungen im Internet – neue narrative Formate, mit denen das C2DH experimentiert. Etwa in der digitalen Ausstellung zum Ersten Weltkrieg oder auch über die BGL. Fickers bedauert dabei die „Fantasielosigkeit“ der Historiker-Kollegen, die trotz der neuen digitalen Möglichkeiten, weiterhin Geschichte in Buchform verfassen wie bereits zu Zeiten eines Leopold von Ranke.