Es gibt in Luxemburg eine Branche, in der man ziemlich genau weiß, was geschieht, wenn ungefähr ab 2020 besonders viele beruflich Aktive in Rente gehen werden: die Krankenhäuser. Ihr Verband FHL macht sich ernsthafte Sorgen um das Pflegepersonal in den Kliniken.
Im April 2015, das ist der letzte Stand, beschäftigten die Spitäler 5 399 Mitarbeiter mit dem Statut „certaines professions de santé“. In die etwas seltsam klingende Sparte fallen alle, die kein Arzt, Apotheker oder Psychotherapeut sind. Sie umfasst 21 Berufe vom Allgemeinkrankenpfleger und spezialisierten Krankenpflegerinnen über Laboranten und Hebammen bis hin zu Kinesitherapeuten und Heilpädagoginnen. 1 146 oder 21 Prozent dieser knapp 5 400 Mitarbeiter sind älter als 50 und werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren pensioniert. 366 von ihnen sind über 55 und werden schon in den nächsten zwei bis drei Jahren in Rente gehen. „Das sind viele“, sagt Sylvain Vitali, Chef der Abteilung Pflege bei der Fédération des hôpitaux luxembourgeois.
Man könne sagen, dass in allen der 21 „certaines professions“ ein Fünftel bis ein Viertel der in den Krankenhäusern Angestellten „demnächst ersetzt werden müssen“, fährt Sylvain Vitali fort. Besonders schwierig werde das aber bei den Allgemeinpflegern und den spezialisierten, für Anästhesie und für Psychiatrie etwa. Allgemeinkrankenpfleger stellen mit 546 fast die Hälfte der 1 146 Krankenhausmitarbeiter über 50. Haben sie mindestens 20 Jahre im Schichtdienst gearbeitet, können sie mit 57 in Frührente gehen, auch ohne 40 Beitragsjahre vorweisen zu müssen.
Was also tun? Seit vielen Jahren schon wird der Pfleger-Nachwuchs stark in den Nachbarländern rekrutiert. Die Hälfte der 5 399 Klinikmitarbeiter wohnt nicht in Luxemburg. „Es geht aber nicht an, dass wir uns weiterhin so auf die Großregion verlassen“, findet Monique Birkel, Pflegedirektorin des CHL. Zwar sei das „kein ethisches Problem“ mehr wie noch vor 15 Jahren: Damals sahen Absolventen der Krankenpflegerschule in Arlon sich gleich nach dem Abschluss nach einer Stelle in Luxemburg um, wo die Gehälter drei Mal höher sind. Und sogar der Direktor der Universitätsklinik Namur beschwerte sich, Luxemburg locke dort dringend benötigte Arbeitskräfte fort (d’Land, 14.06.2001). Seitdem hätten die Nachbarländer ihre Krankenpflegerausbildung intensiviert, sagt Monique Birkel. „Doch das geschieht auch, weil die Bevölkerung dort wie bei uns älter wird, dann oft an mehreren Krankheiten gleichzeitig leidet und kompetent betreut werden muss.“
Und: Papy-Boom statt Baby-Boom gilt auch im Ausland. „In Deutschland herrscht schon jetzt akuter Krankenpflegermangel, in Belgien und in den Niederlanden auch“, weiß Monique Birkel. Eigentlich sei das Problem überall in Europa dasselbe. „Großbritan-nien bezieht deshalb schon seit Jahren Krankenpfleger für seinen National Health Service aus Indien. Da gibt es Schulen, die exklusiv für den NHS tätig sind, und zwar ganz massiv.“ Für sie steht fest: „Wir müssen mehr in Luxemburg selbst ausbilden.“
Das liegt nahe, und immerhin verfügt Luxemburg über das Lycée technique pour professions de santé (LTPS), das im laufenden Schuljahr 1 361 Schüler und Studenten zählt. Dort werden nicht nur Allgemeinkrankenpfleger ausgebildet, sondern auch die spezialisierten für Pädiatrie, Psychiatrie und Anästhesie, sowie Hebammen, Assistenten für Pharmazie, Radiologie und Chirurgie und außerdem noch Pflegehelfer. Die Einschreibungen am LTPS nähmen zu, berichtet Direktorin Maly Goedert: „2007 hatten wir nicht mal 900 Schüler.“
Doch für den Bedarf der Krankenhäuser reicht das nicht. 157 LTPS-Studenten befinden sich derzeit im letzten oder vorletzten Jahr ihrer Ausbildung zum Allgemeinkrankenpfleger, so dass an die 70 dieses und nächstes Jahr die Schule verlassen werden. Zu wenig angesichts der 546, die laut FHL „demnächst“ zu ersetzen sind. Und wahrscheinlich wären auch 100 Absolventen pro Jahr noch nicht genug, auf die die LTPS-Direktorin in den nächsten Jahren zu kommen hofft. Zumal nicht nur die Spitäler Krankenpfleger-Nachwuchs suchen, sondern auch Pflegeheime und mobile Pflegedienste. „Gerade dieser Bereich hat in letzter Zeit enorm geboomt“, weiß Maly Goedert. Der Pflegedienstleisterverband Copas setzt ebenfalls verstärkt auf Nachwuchs aus Luxemburg selbst und hielt schon vor vier Jahren die Großregion für „so gut wie leer gefischt“ (d’Land, 20.01.2012).
Noch kritischer ist die Lage bei den spezialisierten Pflegerberufen. FHL-Abteilungsleiter Sylvain Vitali stellt fest, bei den Anästhesiepflegern liege der Anteil der über 50-Jährigen noch zwei Prozentpunkte über dem Schnitt aller „certaines professions de santé“ in den Kliniken. Diesen Ausbildungsgang belegen am LTPS derzeit aber nur 25 Studenten; das macht bei der zweijährigen Spezialausbildung rund 12 Absolventen im Jahr. Ganze neun Studenten werden momentan zu spezialisierten Psychiatriepflegern ausgebildet. Die LTPS-Direktorin weiß: „Solche Leute werden von den Spitälern händeringend gesucht.“
Doch die Ausbildung in Luxemburg drastisch steigern zu wollen, ist leichter gesagt als getan. „Wir haben es leider noch nicht vermocht, in der Öffentlichkeit das Bild vom Krankenpfleger als eigenständigen und hochwertigen Beruf durchzusetzen“, sagt Monique Birkel vom CHL. „Die Leute halten ihn nach wie vor für einen Gehilfen des Arztes, zu dem man sagt, wenn er ans Bett kommt: Rufft mol den Dokter!“ Dabei sei der Pfleger in Wirklichkeit Partner in einer pluridisziplinären Struktur: „Er ist es, der den Überblick über den Patienten hat, aber auch über die Prozesse im Spital. Er hat eine eigene Rolle.“ Kaum bekannt sei auch, dass Krankenpfleger in Luxemburg Tätigkeiten am Patienten ausführen dürfen, die in anderen Ländern Ärzten vorbehalten sind, Bluttransfusionen beispielsweise.
Um den Beruf aufzuwerten, die Karrierechancen zu vergrößern und gleichzeitig den Spitalbetrieb zu verbessern, wird bei der FHL und dem Conseil supérieur de certaines professions de santé darüber nachgedacht, neue Berufsbilder zu entwickeln. Im Rahmen des nationalen Krebs-Aktionsplans zum Beispiel könnte ein Infirmier oncologique nützlich sein: „Er würde innerhalb eines plurisdiziplinären Teams die Koordination des Behandlungs-Parcours übernehmen, den der Patient durch die Klinik absolviert“, erläutert FHL-Generalsekretär Marc Hastert. Ein „Konkurrent für den Arzt“ wäre ein solcher Pfleger keineswegs, sondern „die Kontaktperson für den Patienten, ein Kommunikator, und er würde garantieren, dass die Behandlungsabläufe, die die Ärzte verordnet haben, auch eingehalten werden“.
Mehr Krankenpfleger ausbilden zu wollen und dabei noch für neue Berufsbilder zu sorgen, wirft aber auch ein bildungspolitisches Problem auf. Am LTPS beginnt ein Schüler die Ausbildung in einer 12e. Die anschließende 13e kann in den Zweigen „Krankenpflege“ oder „Gesundheitswissenschaften“ belegt werden und führt zu einem Bac technique. Danach kann eine zweijährige Ausbildung zum Allgemeinkrankenpfleger sich anschließen oder eine dreijährige zum Radiologie-Assistenten oder zur Hebamme. Wer Allgemeinkrankenpfleger ist, kann noch weitere zwei Jahre anhängen, die zum Assistenten für Chirurgie oder zum spezialisierten Krankenpfleger für Anästhesie, Psychiatrie oder Pädiatrie führen.
Doch Allgemeinkrankenpfleger, Radiologie-Assistenten und Hebammen erhalten am Ende ein höheres Technikerdiplom (BTS), die noch spezialisierteren Absolventen einen BTS spécialisé. Abschlüsse dieser Art werden innerhalb der EU neben Luxemburg nur in Deutschland und Österreich vergeben. In den anderen Ländern gelten die „Bologna-Abschlüsse“, wird ein Allgemeinkrankenpfleger nach drei Jahren Ausbildung zum Bachelor, ein spezialisierter Pfleger nach fünf Jahren zum Master. In Frankreich ist die Krankenpflegerausbildung Teil des universitären Systems, in Belgien ist diese Eingliederung im Gange.
Sollte das in Luxemburg auch so sein? Es würde den Beruf zweifellos aufwerten. Bei der FHL weiß man, dass manche LTPS-Schüler dort ganz bewusst nur ihren Bac technique ablegen, dann nach Libramont, Namur oder Brüssel zum Bachelor-Studium wechseln und von dort nach Luxemburg zurückkommen. Die LTPS-Direktorin macht dazu keine Angaben. Sie weiß aber, dass es weniger attraktiv geworden ist, zwei zusätzliche Jahre zum spezialisierten Krankenpfleger zu absolvieren: „Einerseits weil unsere Allgemeinpfleger sich fähiger fühlen, in den Beruf einzusteigen. Früher hängten viele auch aus Unsicherheit noch zwei Jahre an.“ Andererseits wüssten so manche mit dem BTS spécialisé nicht viel anzufangen, „und viel mehr verdient man damit nicht“.
Wahrscheinlich wird die Diskussion auch auf das Thema Geld zu sprechen kommen, wenn LTPS und Bildungs- und Hochschulministerium nun darüber nachdenken, die Krankenpflegerausbildung hierzulande vielleicht tatsächlich zu akademisieren wie in Frankreich und Belgien. Auch Deutschland hat bereits ein duales System eingeführt, das neben dem Krankenpfleger als Fachschulberuf noch einen als Hochschulberuf anbietet, zum Beispiel an der Uni Trier. Wobei dieser Bachelor aber nicht ans Krankenbett führt, sondern in Richtung Pflegemanagement. Was unterstreicht, wie vielfältig der Krankenpflegerberuf ist.
Doch es waren auch sehr politische Überlegungen gewesen, an denen sich nach der Jahrtausendwende zuerst die damalige DP-Bildungsministerin Anne Brasseur und anschließend noch ihre Nachfolgerin Mady Delvaux (LSAP) abarbeiteten, als es darum ging, die LTPS-Ausbildung konform zum EU-Recht zu machen: Sie mit der 12e einsetzen und dann insgesamt vier Jahre dauern zu lassen, wo es vorher drei waren, kam einer Schwergeburt gleich. Auch weil gefürchtet wurde, die Gewerkschaften könnten den längeren Ausbildungsweg durch Karriereaufwertungen in den Gehältern begleitet haben wollen. In Wirklichkeit brauchte es dazu erst die Reform des Beamtenstatuts und die Laufbahnen-Diskussion im parastaatlichen Spitalsektor wird erst jetzt in den derzeitigen Kollektivvertragsverhandlungen geführt. Klar scheint aber, dass eine Akademisierung der Ausbildung neue Gehälterdiskussionen nach sich ziehen wird, und immerhin arbeiten schon jetzt französische und belgische Pflegerinnen und Pfleger mit Bac+3 neben LTPS-Absolventen mit BTS und Bac+2 für dasselbe Gehalt.
Rasch wird die Ausbildungsreform allerdings nicht zu haben sein, das ist schon abzusehen. Ob das LTPS als Lyzeum einen Bachelor und gar einen Master ausbilden könnte und nicht etwa die Universität das tun sollte, ist eine Frage, die sich stellen wird. Eine andere ist die, wie eine ausgeweitete Krankenpflegerausbildung, ganz gleich zu welchen Abschlüssen sie am Ende führt, sich organisieren ließe: „Wir können nicht unbegrenzt wachsen, dazu gibt es nicht genug Praktikumsplätze in den Spitälern“, erklärt die LTPS-Direktorin. So dass also auch noch zu überlegen bleibt, ob die Gesundheitsministerin mit dem neuen Spitalplan, der Kompetenzen bündeln soll, die richtigen Voraussetzungen schafft, damit dem Papy-Boom in der Branche aus eigener Kraft begegnet werden kann.