Luxemburgensia

Zwölf Kisten Handschriften

d'Lëtzebuerger Land vom 06.04.2018

Eine halbe Stunde hinter der belgischen Grenze liegt das heute vor allem für seinen Käse und sein Bier bekannte Trapisterkloster Orval. Im Zuge des katholischen Anti­modernismus war es kurz vor dem Zweiten Weltkrieg auf den Ruinen des historischen Zisterzienserklosters wiederaufgebaut worden. Die mittelalterlichen Zisterzienser waren arbeitsame Reformbenediktiner, deren Klöster zu stramm organisierten Produktionsstätten wurden, die für Pierre Musso (La Religion industrielle, Paris, 2017) Wiegen einer ersten Industriellen Revolution wurden.

Über die Ursprünge des wohl 1131 gegründeten Orvaler Klosters ist wenig gewusst. Außer frommen Geschichten, die manchmal noch heute als historische Tatsachen verbreitet werden. Einige beruhen auf mittelalterlichen Urkundenfälschungen, mit denen das Kloster seine Ansprüche auf Landbesitz und Feudalabgaben vergrößerte. Da Orval und das restliche Herzogtum Luxemburg etwas abgelegen waren, erstrahlte das Kloster selten als religiöses oder intellektuelles Glanzlicht. Der Mönch Gilles d’Orval schrieb am Ende seiner Gesta episcoporum Leodiensium von den „filiis uestris balbutientibus et ydiotis Aureeuallis“.

Diese Geschichte der Lütticher Bischöfe ist eine Handschrift, die im Priesterseminar aufbewahrt wird, das sich inzwischen „Luxembourg School of Religion and Society“ nennt. Insgesamt gibt es hierzulande 74 Manuskripte aus dem im Laufe der Jahrhunderte wiederholt ausgeraubten oder niedergebrannten Kloster, weitere neun Fragmente hat der Handschriftenexperte Thomas Falmagne identifiziert, als er Die Orvaler Handschriften bis zum Jahr 1628 in den Beständen der Bibliothèque nationale de Luxembourg und des Grand Séminaire de Luxembourg verfasste.

Die gewichtige Monografie besteht aus einem Kommentarband und einem nach deutschen Normen in jahrelanger Benediktinerarbeit aufgestellten Katalog, der auch die Klosterbibliothek verschiedener Epochen zu rekonstruieren versucht. Das Werk stellt den zweiten Band des von der Nationalbibliothek veranlassten und herausgegebenen, auf drei Bände angelegten Monumentalwerks Die Handschriften des Großherzogtums Luxemburg dar. Der erste Band, über die Handschriften des Echternacher Klosters, war 2009 erschienen (d’Land, 25.2.2010) und viel gelobt, aber auch als überladen oder unpraktisch kritisiert worden.

Die meisten Handschriften in seiner Geschichte hatte das Kloster Orval gekauft oder sich schenken lassen. Nach Thomas Falmagne lässt sich mit Sicherheit nur für den Anfang des 13. Jahrhunderts eine eigene Schreibwerkstatt in Orval nachweisen. 24 Handschriften seien in Orval selbst entstanden, drei weitere mutmaßlich; die restlichen kämen aus Frankreich und Deutschland. Die drei frühesten Handschriften, De consensu evangelistarum von Augustinus, ein Homiliarium des Benediktinermönchs Smaragde de Saint-Mihiel und eine Chronik von Bischof Fréculf de Lisieux, gehen auf das neunte Jahrhundert zurück.

Die große Mehrheit der in Luxemburg aufbewahrten Orvaler Handschriften wurde im 12. und 13. Jahrhundert angefertigt. Von 131 Einzelbänden haben 85 religiöse Inhalte und stellen meist Abschriften weitverbreiteter Werke dar, die in keiner Klosterbibliothek fehlen durften. Zu den interessanteren Werken gehört eine sehr frühe Liedsammlung des Scholasters Godefroid de Reims. 24 Handschriften sind didaktischen und naturwissenschaftlichen Inhalts, etwa eine voluminöse Naturgeschichte von Plinius dem Älteren aus dem 12. Jahrhundert. Elf Handschriften sind juristische Werke.

Die Geschichte der Orvaler Manuskripte endet ähnlich wie diejenige der Echternacher: Vor den französischen Revolutionstruppen versuchten die Mönche die Handschriften zuerst 1791 in ihrem Refugium in der Festung Luxemburg und dann 1795 in Florenville zu verstecken, von wo 1796 zwölf Kisten zurück nach Luxemburg gebracht wurden. Die säkularisierten Schriften befinden sich heute in der Nationalbibliothek, drei Handschriften sind in der Pariser Nationalbibliothek, weitere in belgischen Bibliotheken, viele waren von Geistlichen ad maiorem Dei gloriam beiseite geschafft, verkauft oder verschenkt worden.

Thomas Falmagne unter Mitwirkung von Luc Deitz, Die Orvaler Handschriften bis zum Jahr 1628 in den Beständen der Bibliothèque nationale de Luxembourg und des Grand Séminaire de Luxembourg, Harrassowitz, Wiesbaden, 2017, 814 S., 178 Euro

Romain Hilgert
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