Siebenbürgen. Banat, Bukowina. Vor rund eintausend Jahren machten sich die ersten Siedler aus dem Moselraum, aus Luxemburg, Flandern und Holland auf den Weg in diese Regionen im heutigen Rumä-
nien, um eine neue Heimat, eine Zukunft für sich und ihre Familien zu finden. Sie nahmen das Wichtigste mit an diesen neuen Ort: ihre Sprache und ihre Kultur, die sie über Jahre und Generationen bewahrten. Noch heute sprechen manche „Siebenbürge Sachsen“, wie die Aussiedler oftmals genannt werden, eine Sprache, die an das Moselfränkische und damit das Luxemburgische erinnert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele von ihnen vertrieben, verschleppt, deportiert. Aus Deutschen wurden die Deutschen. Schicksale von Menschen, denen sich der luxemburgische Fotograf Marc Schroeder in den vergangenen nahezu zehn Jahren angenommen hat. Ein wagemutiges Unterfangen, das den Künstler scheitern lassen kann, wenn er lediglich auf die Macht der Geschichte und deren emotionaler Verquickung mit der Erinnerung setzt.
Doch dieser Einfachheit der Darstellung, dem plakativen Moment des Effekts erliegt Schroeder nicht. Er setzt nicht auf Schrecken, auf krasse Darstellung von Flucht und Vertreibung, sondern auf den Menschen im Zentrum des Geschehens, im Laufe und im Wandel der Zeiten. Distanz behielt Schroeder vor allem dadurch, dass er keinerlei persönlichen oder biografischen Bezug zu den Überlebenden der Russland-Deportation hat. „Ich bin über das Thema vor acht Jahren bei einer ersten Spurensuche in Siebenbürgen gestolpert“, erzählt der Fotograf. „Ich hatte erst ein paar Monate vor dieser Reise von den Siebenbürger Sachsen erfahren und dass diese Gemeinschaft immer noch einen Dialekt spricht, der dem Luxemburgischen ähnelt.“ Während seines damaligen Aufenthalts erfuhr Schroeder von der Russland-Verschleppung in den Nachkriegsjahren.
Sein Anliegen war es, diesen Menschen mit ihren Schicksalen, ihren Biografien ein Andenken zu geben, bevor die Lebensgeschichten in Vergessenheit geraten. Ein besonderes Sujet für den Dokumentarfotografen, der sich mit seinem eigenen Denken, seiner eigenen Assoziation von Deutschen als ausschließlichen Tätern konfrontiert sah. Die meisten Menschen, insbesondere außerhalb Deutschlands, so Schroeder, folgten ihrer gelernten Gleichsetzung von Deutschen mit Tätern – ausschließlich Tätern. „Ich auch.“ Schröder erinnert sich: „Hier, in Siebenbürgen, erfuhr ich, dass ungefähr 75 000 deutsche Zivilisten in Arbeitslager verschleppt wurden, nur weil sie einer Minderheit angehörten und somit durch ‚Kollektivschuld‘ ebenfalls zu Opfern wurden.“ Er suchte und besuchte diese Menschen, um sie zu fotografieren, zu interviewen und im Gedächtnis zu behalten.
Marc Schroeder hat seine fotografischen Erinnerungen zu einer Ausstellung zusammengestellt, die Mitte März auf dem rumänischen Stand während der Leipziger Buchmesse zum ersten Mal präsentiert wurde. Die Porträts setzt er dabei mit „flüchtigen“ Landschaftsaufnahmen zusammen, verbindet diese mit historischen Dokumenten: Auszügen aus Tagebüchern, Postkarten an die zurückgebliebenen Familienmitglieder oder Fotos aus den Lagern. Hinzu kommen Tonbandaufnahmen der Interviews, die Schroeder mit seinen Protagonisten führte. So entstand ein einzigartiger Blick auf die Menschen. „Es sind die letzten Überlebenden der Russland-Verschleppung. Viele der Leute, die ich fotografiert habe, sind heute bereits tot.“
Es ist bislang Schroeders größtes und längstes Projekt. Erst vor knapp zehn Jahren fand der Luxemburger zur Fotografie. Das Porträt, der Mensch im Mittelpunkt, reizt ihn besonders. Er selbst bezeichnet sich als Dokumentarfotograf – des einzelnen Menschen und seiner Lebensumstände. „Ich habe immer gerne Porträts gemacht. Sie sind Zeugnisse der Begegnung und des Austauschs zwischen mir und dem porträtierten Menschen. Der Kontakt an sich ist mir so wichtig wie das Foto, das dabei entsteht.“ Das Bild sei mehr ein Zeugnis des Aufeinandertreffens als eines der Person an sich. Schroeder über seine Arbeit: „Ich bin fest davon überzeugt, dass wenn ein anderer Fotograf die gleichen Personen fotografiert hätte, wären andere Bilder entstanden. Nicht unbedingt, weil der Andere eine andere Weise des Fotografierens hat, sondern weil die Interaktion zwischen Fotograf und Protagonist eine andere gewesen wäre.“ Schroeder setzt auf die Kontraste der Schwarzweißfotografie. Damit reduziert er seine Protagonisten auf ihre Biografie, wie sie sich in ihre Gesichter, ihre Mimik und ihren Blick gezeichnet haben. Einsam. Resigniert. Hin und wieder mit einer besonderen Anmutung von Hoffnung und Weitblick.
Größte Herausforderung in seinem Projekt, so der Fotograf rückblickend, sei die Spurensuche gewesen, Überlebende der Deportation zu finden. Viele von ihnen lebten heute zurückgezogen und einsam in Altenheimen. Sie galt es davon zu überzeugen, ihre Geschichte zu erzählen und Teil der Dokumentation zu werden, sich wieder der eigenen Biografie zu stellen. Manch ein Lebensweg hat sich ihm eingebrannt: „Ada Sonntag, die nach fünf Jahren ihren eigenen Bruder nach ihrer Ankunft in Rumänien nicht mehr wiedererkannte. Sie lebte ein Jahr im Lager, dann wurde sie mit einem Krankentransport nach Dresden gebracht, bevor sie nach Rumänien zurückkehren konnte.“ Auch mit 83 Jahren habe sie bei einer Begegnung mit Schroeder Rilke und Wilhelm Busch rezitiert. „Rita Petri aus Temeswar habe ich über drei Jahre immer wieder besucht. Sie strickte mir aus Restwolle Pullover und glaubte, sie sei meine rumänische Adoptivoma. Und ich ihr luxemburgischer Adoptivenkel.“ Mit anderen Protagonisten musste er bereits morgens um zehn Uhr Schnaps trinken. Selbstgebrannten.
Marc Schroeder ist mit seiner Dokumentation ein wichtiger Beitrag gelungen über die Macht der Heimat, die Bedeutung von Zuhause, über Biografien in Zeiten von Flucht und Vertreibung. Im Laufe des Jahres wird die Ausstellung in Rumänien zu sehen sein, später dann in Luxemburg, doch stehen Zeit und Ort im Großherzogtum noch nicht fest. Das Projekt soll in einen Bildband münden, der einen Moment europäischer Geschichte dem Vergessen entreißt.