„Ich habe Grammatik früher gehasst“, sagt Constanze Weth lachend. Wer ihr zuhört, kann das kaum glauben. Die Professorin der Soziolinguistik erzählt mit einer Hingabe von Wortstrukturen, Graphemen und Phonemen, als seien diese schon immer ihre Leidenschaft gewesen – und nicht erst seit den drei Jahren, seitdem die Deutsche an der Uni Luxemburg lehrt und forscht.
Weths Forschungsinteresse gilt dem deutschen und dem französischen Schrifterwerb. Früh hat die Soziolinguistin zu mehrsprachigem Lesen und Schreiben geforscht. Es war die Begegnung mit marokkanischen Schülern im französischen Lille in Rahmen ihrer Doktorarbeit, die sie zu einer Beobachtung brachten, die ihre künftige Forschung maßgeblich prägen sollte: Obwohl mehrsprachig aufgewachsen, waren die Leistungen der Maghreb-Schüler im schriftlichen Französischen vergleichsweise schlecht. Als Weth die Produktionen der Schüler genauer untersuchte, entdeckte sie in den Diktaten und Geschichten jedoch, dass dortige Fehler gewissen Regelhaftigkeiten unterlagen – und manch ein Schüler Regeln, die er aus dem Arabischen kannte, einfach ins Französische übertragen hatte.
„Sagt man Grammatik, verstehen die meisten darunter die normative Rotstiftgrammatik“, bedauert Weth. Doch ein falsches Wort oder ein Satz, den der Lehrer im Heft rot anstreicht, kann aus der Kinderperspektive Sinn machen. „Wenn ein Kind ‚springte’ oder ‚singte’ schreibt, dann ist das normativ falsch, aber das Kind hat die Beugungsregel für regelmäßigen Verben angewandt“, wirbt Weth für mehr Aufmerksamkeit und Verständnis. Diese Regeln gelte es zu entdecken und den Kindern in ihrer Sprache und ihrem Tempo verständlich zu machen. „Kinder nehmen Sprache anders wahr als Erwachsene“, betont Weth. Für Erwachsene sei das Erfahren einer Sprache durchs Schriftliche geprägt: Weil sie Begriffe kennen oder verwandte Wörter erkennen, sie aus dem Kontext erschließen. „Kinder haben diese Fähigkeiten anfangs nicht, sie erleben Wörter eher als Laute“, so Weth weiter.
Kinder lernen das Alphabet anhand der Lauttabelle, sie begreifen, dass zu jedem Laut ein Buchstabe gehört. „Wenn ich das Wort ‚Pappe’ habe, wird eine Kindergärtnerin vielleicht in die Hände klatschen, um die Silben zu betonen. In der Schule wird die Lehrerin womöglich lediglich sagen: Pappe, mit zwei P in der Mitte – hört man doch! Aber Kinder hören das nicht einfach so und wissen nicht, dass das Doppel-P dazu dient, den Vokal davor kurz zu betonen.“ Während Weth erklärt, klatscht sie in die Hände und formt die Worte überdeutlich.
Diese Regelhaftigkeiten herauszuarbeiten und so zu erklären, dass Kinder sie verstehen können, ist Weth nicht in den Schoß gefallen. Es war ein Nachhilfeprojekt in Freiburg mit Einwanderer- und Arbeiterkindern, an dem sie als junge Studentin teilnahm, das ihren Blick für die Problematik schärfte. „Dieses Projekt und meine Recherchen in Frankreich haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, bei vermeintlichen Fehlern genau hinzuschauen“, sagt Weth. Seitdem hat sie das Thema nicht mehr losgelassen. An der Uni Luxemburg unterrichtet die Soziolinguistin angehende Lehrer in Grammatik und Orthografie. Obwohl sie Französisch ebenfalls sehr gut spricht, hat sich Weth für Deutsch entschieden: „Weil Deutsch klare Regeln hat und weil es die Sprache ist, in der Kinder in Luxemburg das Alphabet lernen.“ In zehn Doppelstunden rast sie durch ihr üppig gefülltes Programm: Wie lernen Kinder lesen? Was bedeutet Lesen aus der Erwachsenenperspektive, was aus der Kinderperspektive? Was sind Laute, was Silben, was Satzstrukturen? Wie wird aus zwei Silben ein Wort? Was sind Stammwörter? Nach der Theorie kommen Praxisbeispiele: Studenten im Stage sollen eine mittelstarke Schülerin auswählen, deren Texte sie sammeln und die sie gemeinsam mit Kollegen besprechen. Dabei stehen nicht Duden und Rotstift im Mittelpunkt; die Lehreranwärter sollen analysieren, warum Kinder welche Fehler machen, welche Regeln sie nicht kennen und womöglich aus einer anderen Sprache falsch übersetzen. Dies ist gerade bei mehrsprachigen Kindern wichtig: „Erst im Kontrast mit der zweiten Sprache fällt dann auf, dass die Fehler Sinn machen.“
Wer Weth zuhört und selbst kein Sprachgenie ist, dem kann schon mal der Kopf schwirren. Deutlich aber wird: Eine oder mehr Sprache(n) zu lernen, ist ein komplexer Prozess, der nicht automatisch geschieht, wo jeder einmal klein anfängt – und der vor allem Zeit braucht. Bei zweisprachigen Kindern oft sogar ein wenig länger, weil mehr Wörter und Regeln gelernt werden müssen.