Revolutionäre Umwälzungen ereignen sich nicht selten im Sinne des Freiheitsstrebens. Bei bürgerlich motivierten Umstürzen, während der Arbeiteraufstände jubelten die Nutznießer, zitterten jene, die sich unantastbar wähnten. Zwischen beiden Blöcken entstanden Dissonanzen, knirschten die Scharniere.
In seinem 1904 in Moskau uraufgeführten Drama Der Kirschgarten legt der russische Autor Anton Tschechow die völlige Haltlosigkeit des nach der Aufhebung der Leibeigenschaft heillos verschuldeten Landadels und die neuen Chancen der ehemals in Abhängigkeit lebenden Bauern zu Wohlstand und Erfolg offen. Die trotz ihrer finanziellen Pleite verschwenderische Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranjewskaja kehrt nach Jahren im Pariser Exil in ihre russische Heimat zurück. Es ist eine Heimat, in der sie ein stolzes Anwesen samt prachtvollem Kirschgarten ihr eigen nennt. Noch. Die Verschuldung der Familie erzwingt die Versteigerung des Guts, eine Versteigerung, der nach Ansicht des Kaufmanns Lopachin einzig mit einer modern ausgerichteten Parzellenverpachtung an die Sommergäste entgegenzuwirken ist. Ein Aufprall marktwirtschaftlicher Interessen, aristokratischer Weltfremdheit und intellektueller Grundsatzreflexion bahnt sich an.
Regisseur Claude Mangen hat Tschechows Komödie am Kapuzinertheater inszeniert. Am Premierenabend liefert er dem Publikum wenig Neues. Muss er auch nicht. Mangens Interpretation schöpft aus den Vollen, wenn man das Drama so liest, wie selbst der Autor sein Werk verstand, nämlich als melancholisch stimmende Komödie. Auffällig ist jedoch die Verlagerung des Humoresken von der Groteske zum Komischen. Zu selten bleibt dem Publikum das Lachen im Halse stecken, zu selten richtet sich das Augenmerk auf Tschechows überzogene Darstellung der dem Abgrund entgegen grinsenden Gutsbesitzerin, die auf dieser Bühne im Schutz des Ensembles an Profil verliert. Nein, hier sind es die Nebenfiguren, die den Tenor des Komischen tragen. Herzzerreißend, überragend mimt Pol Greisch den greisen Lakaien Firs, unter dessen verwirrter Schädeldecke sich die Erinnerung an eine stolze Vergangenheit mit seniler Verkümmerung paart. Urkomisch beherrscht Christine Reinhold ihre Rolle als schrullige Gouvernante.
Von den komischen Momenten vollkommen unabhängig treffen die Darsteller den Ton insgesamt recht präzise. Jean-Paul Maes als schwatzender, nervtötender Bruder des Gutsbesitzers ist leider damit überfordert, sich selbst zu spielen, anstatt sich mit seiner Rolle zu identifizieren. Doch in der Tat präsentiert Mangen insgesamt ein überzeugendes Aufgebot: Von Myriam Muller über Christiane Lemm und Jules Werner bis hin zu Steve Karier ist Der Kirschgarten weitestgehend passend besetzt.
Unnachgiebig setzt Nora Koenig ihre Gesichtszüge und ihre angespannte Körperhaltung ein, um die Figur der streng gesitteten Warja zu interpretieren und ihre Umgebung atmosphärisch unter den Gefrierpunkt zu ziehen. Nach ihrer erfrischenden Leistung in Büchners Leonce und Lena stellt sie ihr darstellerisches Feingefühl auch hier dezent und doch mit Bravour unter Beweis. Gerade dem für seine komische Rolle bereits gerühmten Pol Greisch bietet die Regie am bitteren Ende ein Forum für die tragische Seite des Dramas in abgedunkelter Kulisse. Firs findet sich nach Tschechows Vorlage in den verlassenen Gemäuern mit dem Untergang der Adelswelt und damit seinem eigenen Abtritt ab: ein trauriges, aber gelöstes Lächeln dem Abschied. Greisch verkörpert diese Endzeitstimmung dermaßen wirksam, dass er den schleppenden ersten Akt der Inszenierung nahezu in Vergessenheit geraten lässt. Er selbst ist zugleich ein deutliches Beispiel für ein angenehmes Detail: Einige Darsteller überzeugen selbst dann, wenn die Scheinwerfer nicht vorrangig auf sie gerichtet sind.
Unverkennbar schält sich auch Mangens Konzentration auf das Leitmotiv der gescheiterten Kommunikation heraus. Auf banaler Ebene wird aneinander vorbeigeredet, prägt der Wortschwall ganze Figurenzeichnungen, wird zum Schweigen aufgefordert, um Schweigen gefleht. Doch auch die kulturelle Kluft zwischen dem scheinexistenten Adel und dem wirtschaftlichen Ehrgeiz des von Bauern abstammenden Kaufmannes offenbart die soziale Grundstruktur des Scheiterns. Der Intellektuelle, der sich in seinen eigenen Theorien verheddert und dessen Forderungen sich als reine Tagträumerei entpuppen, steht mit seinen Worten in krassem Gegensatz zur generellen Lebenswirklichkeit. Mit dem alles dominierenden Weiß des Bühnenbildes nimmt dieses kalte, abstruse Klassendenken und die kommunikative Leere auf engstem Raum farbliche Gestalt an.
Trotz eines langatmigen Anfangs gehört diese Interpretation des Kirschgarten zu den gelungeneren Produk-tionen des Kapuzinertheaters. Tschechows Vorlage bietet kaum handlungsreiche Shakespeare-Dramaturgie. Der Spannungsbogen ergibt sich aus dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Perspektiven, unterschiedlicher Sozialisation. Mangen hat dieses Potenzial genutzt. Er bietet wenig Neues. Er bietet Tschechow. Und das reicht.