Von „vernichtend“ bis „Wir treten erst einmal auf die Bremse“ reichen die ersten Reaktionen auf das Gutachten des Staatsrats zur geplanten Reform der Jugendschutzgesetzes. 32 Seiten umfasst die gründliche Analyse und sie fällt sehr kritisch aus: 16 formelle Einwände, die meisten wegen Rechtsunsicherheiten aufgrund „terminologischer Inkohärenzen“, wegen inhaltlicher Unschärfen oder unklarer Zuständigkeiten hat das Gremium gegen den Text aus dem Justizministerium erhoben.
Das ist bemerkenswert, wurde die Reform doch seit 2015 durch monatelange Diskussionen in einer Arbeitsgruppe vorbereitet, bestehend aus Vertretern der Jugendgerichte und der Staatsanwaltschaft, der Ombudsfrau und von Menschenrechtsorganisationen. Nachdem es viele Einwände gegen einen Vorstoß der CSV-LSAP-Koalition von 2009 gegeben hatte, hat Justizminister Félix Braz (Déi Gréng) einen eigenen Anlauf versucht. Aber schon der Start war holprig und der Weg entpuppte sich als steinig. In der Arbeitsgruppe habe es „abweichende Positionen“ gegeben, man sei sich jedoch darin einig gewesen, im protektionellen System bleiben zu wollen, hatte Braz resümiert, und so steht es im Motivenbericht.
Widersprüchlich und inkohärent
Trotz fast zweijähriger Vorarbeit also ein Kompromissvorschlag voller „Inkohärenzen“: Fortschritte, wie die Verbesserung der Sorgerechtsregelung und des elterlichen Besuchsrechts, eine stärkere Einbindung des Jugendlichen und seiner Familie samt persönlichem Erziehungsprojekt werden durchs Hintertürchen wieder aufgeweicht oder durch repressive Verschärfungen sogar konterkariert. So sei unklar, unter welchen Umständen Anhörung und Akteneinsicht beschränkt werden können. Jugendliche, die die Volljährigkeit erreicht haben und sich weigern, einer richterlichen Anordnung nachzukommen, können bis zu sechs Monate eingesperrt, Jugendliche, die unter dem Verdacht stehen, eine Straftat mit einer Mindesthaftstrafe von zwei Jahren begangen zu haben, können vorübergehend eingesperrt werden – ohne aber dieselben Rechte wie für Erwachsene vorzusehen: Bei erwachsenen Tatverdächtigen darf eine Untersuchungshaft nur angeordnet werden, wenn schwere Beweise für eine Tatbeteiligung sprechen und Flucht- oder Verdunkelungsgefahr besteht.
Statt Erziehungs- und Strafmaßnahmen zeitlich zu begrenzen, sollen sie weiterhin prinzipiell bis zur Volljährigkeit andauern. Bei Jugendlichen, die eine schwere Straftat begangen haben (Mindesthaftstrafe fünf bis zehn Jahre) sollen richterliche Maßnahmen bis zum 25. respektive 28. Lebensjahr verlängert werden können. In Belgien geht das maximal bis zum 23. Lebensjahr. Wie passt das aber zum Jugendschutzgedanken? Und das schärfste Schwert der Justiz: Minderjährige Straftäter, die die öffentliche Ordnung stören oder ein Sicherheitsrisiko darstellen, sollen als ultima ratio weiterhin im Erwachsenengefängnis untergebracht werden können? Obwohl die staatliche Erziehungsanstalt Dreiborn mit der Unisec nun auch über eine gefängnisähnliche Sicherheitsabteilung verfügt.
Eklat in der Arbeitsgruppe
Es war dieser Punkt, der in der Arbeitsgruppe im Justizministerium vor einem Jahr das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Die Menschenrechtskommission verabschiedete sich von den Beratungen unter Protest. Die Ombudsfrau, zuständig für die Kontrolle des Strafvollzugs, forderte in einem ungewöhnlichen Schritt via offenem Brief den Stopp der Wegsperr-Praxis und wies auf fehlende Ausbildungsangebote und eine mangelhafte Betreuung in Schrassig hin. Die Unisec reiche aus. Eben weil im Luxemburger Recht der Jugendschutzgedanke Leitmotto sei, dürften delinquente Jugendliche nicht in den Erwachsenen-Strafvollzug gesperrt werden. Die Staatsanwälte und Richter konterten und verwiesen auf Platzmangel und Sicherheitsrisiken bei jugendlichen Intensivtätern. René Schlechter, nationaler Kinderrechtsbeauftragter, dachte laut über die Einführung eines Jugendstrafrechts neben dem Jugendschutz nach: „Dann hätten die Jugendlichen klare Verfahrensprozeduren und somit mehr Rechtsgarantien“, sagte Schlechter damals dem Land.
Diese Einwände greift auch der Staatsrat in seinem Gutachten auf. Er sieht Inkohärenzen in der Terminologie, aber auch in der Philosophie: Jugendliche, die einer Richteranordnung nicht Folge leisteten, in Haft zu nehmen, bedeute, sich einem „Sanktionsmechanismus anzunähern“. Das Zusammenspiel von/respektive die Abgrenzung zwischen Erziehungs- und Strafmaßnahmen sei nicht präzise genug geregelt. Auch fehlten Verfahrens- und Rechtsgarantien, etwa wenn Eltern von einer Heimleitung der Besuch ihres Kindes verwehrt werde, obwohl nur ein Gericht über das Besuchsrecht entscheiden könne. Oder wenn ein Anwalt, der einem straffälligen Jugendlichen vor Gericht zur Seite stehen soll, gleichzeitig dem Gericht Informationen über dessen Auffassungen liefern solle. Auch ein Mindestalter für Minderjährige, die als ultima ratio im Erwachsenen-Strafvollzug eingesperrt würden, sei unverzichtbar. Insgesamt versteht der Staatsrat nicht, wieso die Autoren die Reform nicht zum Anlass genommen hätten, die Inkohärenzen, die schon im 1992-er-Gesetz angelegt waren, zu beheben.
Vielleicht wären diese zu vermeiden gewesen, hätte der Justizminister seiner Reform eine Analyse des Gesetzes von 1992 vorangestellt – und eine Grundsatzdiskussion über die künftige Ausrichtung der Jugendjustiz neben der Jugendhilfe nicht so früh für erledigt erklärt. Dann wäre bekannt, wie die Erziehungs- und Strafmaßnahmen tatsächlich wirken. Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeiter werfen dem 1992-er-Gesetz seit vielen Jahren vor, es sei wegen des hohen Stellenwerts, den die Justiz bei der Bewertung von Gefährdungslagen für das Kindeswohl hat, und wegen der großen Entscheidungsmacht der Richter eher bevormundend und repressiv als schützend und unterstützend. Dieselben Vorwürfe gab es auch in Belgien, an dessen Jugendschutzgesetz von 1965 sich der Luxemburger Text anlehnt. Dort hatten Rechtsexperten im Text eine „mystification du langage“, Paternalismus, Voreingenommenheit und Tendenzen zur Diskriminierung sozial Schwacher, eine inexistente präventive Wirkung, textimmanente Grauzonen der Interpretation, fehlende Verfahrensgarantien, sowie Verstöße gegen die UN-Kinderrechtskonvention festgestellt, bis das Gesetz 2006 von Grund auf überarbeitet wurde.
Unabhängige Auswertung fehl
Kaum zu glauben, aber obwohl um eine Reform der Luxemburger Version seit über 20 Jahren gerungen wird, fehlt bis heute eine unabhängige wissenschaftliche Auswertung zu den Auswirkungen des Regelwerks – und außer dem Fachverband für soziale Arbeit, Bildung und Erziehung (Ances) fordert sie niemand in der Debatte wirklich. Das ist insofern eine bemerkenswerte Nachlässigkeit, als das Gesetz zum Jugendschutz das Leben von Jugendlichen in Not (und ihren Eltern) enorm beeinflusst und es nicht zuletzt freiheitsentziehende Maßnahmen vorsieht. Als in Deutschland 2013 der Warnschussarrest ins Jugendstrafrecht aufgenommen wurde, beauftragte das Bundesjustizministerium Forscher damit, drei Jahre später dessen Wirkungsweise zu untersuchen: Kriminologen analysierten die Strafverfolgungsstatistik, Rückfallquoten, sie studierten Jugendakten, um zu erfahren, wie, wann und bei welchen Delikten Gerichte den Arrest verhängten und wie sich diese Strafmaßnahme auf die weitere Straffälligkeit der Jugendlichen auswirkte. Eine solche Studie dauere circa zwei Jahre, sagte Christian Pfeiffer, ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und Ko-Autor der Studie. Zwei Jahre, die die DP-LSAP-Grüne-Regierung offenbar nicht aufbringen mochte, um eine umstrittene Reform gründlich vorzubereiten.
Den Justizminister setzt das Staatsrats-Gutachten nun unter Druck, denn das aktuelle Recht ist dringend überholungsbedürftig, derweil sein Kompromissvorschlag gründlich überarbeitet werden muss. Der neue Präsident der parlamentarischen Justizkommission, Braz’ grüner Parteikollege Charles Margue, kündigte vor der ersten Besprechung des Gutachtens durch die Abgeordneten am Mittwoch an, „auf die Bremse treten“ und das Dossier „gründlich studieren“ zu wollen. Dan Biancalana, LSAP-Abgeordneter und von Beruf Kriminologe, sieht angesichts der „sehr sensiblen Materie“ und der „nötigen Nachbesserungen“ noch „viel Diskussionsbedarf“, der auch „Überlegungen zur grundsätzlichen Ausrichtung“ der Reform nicht ausschließen dürfe. „Für eine wissenschaftliche Auswertung, so wünschenswert sie ist, ist wohl keine Zeit mehr. Aber wir sollten uns genau überlegen, wohin wir mit dem Jugendschutz steuern wollen“, mahnte der LSAP-Abgeordnete.
Nachbessern, aber wie?
Zumal die Lesart des Staatsrats eUnterstützung findet: Der Dachverband der sozialen Träger, die Fedas, hat den Kompromissvorschlag ebenfalls analysiert und bemängelt einen „eher repressiven Ansatz“ statt mehr Jugendschutz, dies in mehrfacher Hinsicht: Der Entwurf betrachte Jugendliche und Kinder in Not vornehmlich als potenzielle Straftäter, aber kaum als Opfer von Straftaten. Trotz künftig individuellen Erziehungsprojekt für die betroffenen Jugendlichen berücksichtige er zu wenig dessen individuelle Entwicklungen. Zudem fragt die Fedas, ob einem Jugendlichen, der sich Richteranordnungen widersetzt, wirklich „systematisch“ mit Erziehungs- oder Strafmaßnahmen begegnet werden müsse, wenn doch im Kinderhilfegesetz Hilfsmaßnahmen vorgesehen sind. Es fehlten Maßnahmen zur Prävention gegen Rückfallgefahr und schließlich würden Grundrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind, zu wenig berücksichtigt, etwa die Unschuldsvermutung und das Recht der Verteidigung.