Die drei Jahre, die die Ermittlungen zur Geheimdienst-Affäre andauern, ohne dass Anklage erhoben wurde, seien „Beweis einer gewissen Langsamkeit der Justiz“, tadelte Alex Bodry am Dienstag im Parlament. Der LSAP-Fraktionschef sprach damit ein Dauerproblem an: Justitias Mühlen mahlen viel zu langsam. Unvergessen der Mammut-Prozess zum Luxair-Flugzeugunglück, der sich auf gut zwölf Jahre erstreckte, um ein Beispiel zu nennen, das international für Kritik sorgte. Bis das Urteil beim Berufungsgericht fiel, drohten die Schadensansprüche von Opfern zu verjähren. Von 43 Verurteilungen Luxemburgs vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg betrafen 18 eine überlange Verfahrensdauer.
Damit soll bald Schluss sein. Der ehemalige Generalstaatsanwalt Robert Biever stellte am Mittwoch vor einer Woche seine Überlegungen vor, wie hartnäckige Blockaden im Justizapparat gelöst, Gerichte effizienter gemacht und Verfahren beschleunigt werden könnten. Dabei, betonte er auf einer Pressekonferenz mit dem Auftraggeber, Justizminister Félix Braz (Déi Gréng), gehe es nicht um eine fundamentale Reform, sondern um „kurz- und mittelfristige Maßnahmen“. Nichtsdestotrotz dürfte sein 47-seitiger Bericht, der unter www.mj.public.lu eingesehen werden kann, für reichlich Kontroversen und – altbekannte – Grabenkämpfe sorgen.
Am ehesten Zustimmung finden, zumindest bei Richtern, dürfte Bievers erneute Forderung, die Zahl der Richter deutlich zu erhöhen. Mehr Richter einzustellen, wird das Problem der überlangen Verfahren allein aber nicht beheben, das weiß der pensionierte Generalstaatsanwalt und besteht daher auf strukturellen Verbesserungen.
Einige Vorschläge, wie die Schaffung eines Obersten Gerichtshofs, sind nicht neu. François Biltgen, Richter am Europäischen Gerichtshof, hatte als damaliger CSV-Justizminister vorgeschlagen, über den Kassationshof und den Verwaltungsgerichtshof ein Oberstes Gericht einzuführen. Biever unterstützt den Vorschlag, um eine „einheitliche Rechtsprechung“ zu erreichen. Weil Entscheidungen des Obersten Verwaltungsgerichts, anders als ordentliche Gerichtsverfahren, nicht angefochten werden können, drohten im schlimmsten Fall Konflikte in der Auslegung zwischen Kassationshof und Verwaltungsgericht. Die Schaffung einer Cour suprême als letzte Berufungsinstanz auch für Verwaltungsrechtsfragen würde die „Anomalie“ beenden, so Biever, der sich aber keine Illusionen darüber macht, dass eine solche Reform Überzeugungsarbeit bedeutet: Verwaltungsrichter hatten sich eher ablehnend zu einem Obersten Gerichtshof geäußert. Sie fürchten die Abschaffung des „dualen Systems“, vor allem aber Bedeutungsverlust.
Für „unverzichtbar“ hält Biever den im Regierungsabkommen festgehaltenen nationalen Justizrat. Laut Gesetz beruft und befördert der Staatschef die Richter, auch wenn er in Wahrheit bloß Vorschläge der Cour supérieure de justice umsetzt. Im Sinne der Gewaltentrennung und um jegliche Einmischung auszuschließen (siehe Euthanasiegesetz) fordert Biever, Richter künftig durch ein Gremium aus Richtern und Vertretern der Zivilgesellschaft zu ernennen. Es solle auch für Disziplinarfragen zuständig sein. Biever kann sich sogar eine paritätische Zusammensetzung vorstellen, als „sehr starkes Zeichen einer Öffnung der Justiz“.
Dass eine Mehrheit der Richter einer gleichberechtigten Besetzung zustimmt, dürfte aber Wunschdenken sein. Die größten Gegner seiner Ideen dürften sich ohnehin unter den Richtern tummeln, deren Kritik Biever im Bericht mit pädagogischen, mahnenden Bemerkungen zuvorzukommen versucht: „Weil die Justiz eine der Gewalten im Staat ist, muss sie, wie die anderen Gewalten, der Bevölkerung (dem souveränen Volk!) Auskunft über ihre Aktivitäten, Entscheidungen und Arbeitsmethoden geben.“ Für den Experten steht fest: Die Justiz sei in die Ära der Evaluation eingetreten. Die Vereinigung der Strafverteidiger hatte es einmal kämpferischer formuliert: „Die Zeit der Omnipotenz des Richters, ohne jegliche Kontrolle, ist vorbei.“ Eine unabhängige Untersuchung zur Qualität und Effizienz der Justiz gibt es allerdings bis heute nicht, die hat der grüne Justizminister auch nicht bestellt. Biever ist gleichwohl überzeugt: Die Justiz sei insgesamt „eher gut akzeptiert“.
In der Vergangenheit hatte sich der Groupement des magistrats massiv dagegen gewehrt, der Öffentlichkeit und vor allem der Presse mehr Einblick in Gerichtsverfahren und die Rechtsprechung zu geben. Bei größeren Prozessen klappt die Öffnung inzwischen einigermaßen, Biever will sie vorantreiben: Nach wie vor sind nur die Urteile des Verwaltungsgerichts online zugänglich (für Laien schwer zu durchschauen) und ist der Zugang zu richtungweisenden Urteilen für Journalisten erschwert. Anwälte müssen für den Zugang bezahlen und haben dennoch nicht denselben Zugriff wie Richter. Es kommt vor, dass übereifrige Türsteher und Richter Journalisten, ja sogar interessierten Anwälten den Zugang zu einer öffentlichen Sitzung ohne Angabe von Gründen versperren, obwohl selbst Jugendgerichtsverfahren grundsätzlich öffentlich sind.
Genauso wichtig wie mehr Transparenz ist ein fairer Prozess für den Angeklagten. Menschen mit geringem Einkommen, die sich keinen teuren Anwalt leisten können, können Prozesskostenhilfe (Assistance judiciaire) beantragen. Weil aber die Kosten für die Prozesshilfe in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen sind, steht die Hilfe in der Kritik, dabei wurden die Tarife seit Jahren nicht angehoben. Biever zufolge sollte die Prozesskostenhilfe nicht länger von einem Rat der Anwälte bewilligt werden, wie das aktuell geschieht, sondern durch das Gericht – was bei Anwälten sicher für Protest sorgen dürfte. Auch fordert Biever, Schluss zu machen mit einer „schockierenden Konsequenz“ des Luxemburger Justizsystems: Weil jeder für seine Verfahrenskosten aufkommen muss, hat die Siegerseite sogar in einem unverschuldeten Streitfall die Anwaltskosten selbst zu tragen.
Eine erhebliche Entlastung der Gerichte verspricht sich Biever davon, wenn Verfahren, die den Straßenverkehr betreffen, von den Gerichten ausgegliedert würden, ähnlich wie es in Deutschland geschieht. Zwei Drittel aller Strafverfahren behandeln Verstöße im Straßenverkehr. Warum nicht diese, statt vor Gericht, von einem Vollstreckungsamt entlang eines einheitlichen Bußgeldkatalogs entscheiden? Dessen Beschlüsse könnten wiederum vor einem Amtsrichter angefochten werden. Ein außergerichtliches Schlichtungsverfahren kann sich Biever ebenfalls für die Abwicklung von unkomplizierten Firmenpleiten vorstellen. Pro Jahr ergehen etwa 500 Urteile, rund 5 000 Konkurse sind noch anhängig. Biever regt außerdem an, die Verantwortung der Einzelrichter auszudehnen, so dass beispielsweise Friedensrichter über einfachen Diebstahl oder Zechprellerei mit einem Streitwert bis zu 25 000 Euro urteilen könnten, sowie klare Fristen einzuführen. Mitunter warten Gerichte Monate auf das Gutachten eines Experten. Bievers Vorschlag, mehr Fälle von einem Einzelrichter urteilen zu lassen statt von einer Richterkammer, ist aber nicht unproblematisch. Dem Ombudskomitee für Kinderrechte sowie die Menschenrechtskommission zufolge, sollten im Bereich des Jugendschutzes oder bei Vormundschaftsfragen besser drei Richter entscheiden statt einer – zu viel Verantwortung kann zu Missbrauch, Fehlurteilen oder Überforderung führen, wie der Fall um einen Vormundschaftsrichter am Bezirksgericht Luxemburg zeigt, der wegen Verdacht auf Fehlverhalten suspendiert wurde.
In seinem Bericht greift Biever eine Grundsatzfrage auf, die in Belgien und Frankreich seit einiger Zeit ziemlich kontrovers diskutiert wird: die Rolle des Untersuchungsrichters. Anders als in Deutschland oder Großbritannien herrscht in Luxemburg das so genannte inquisitorische Verfahren vor; Ermittlungen und Aburteilung liegen in einer Hand. Ein Untersuchungsrichter ermittelt in beide Richtungen, für und gegen den Angeklagten. Auf der Grundlage seiner Ermittlungen entscheidet der Staatsanwalt darüber, ob Anklage erhoben wird, oder nicht. Dies führt dazu, dass oft schon im Ermittlungsverfahren sehr gründlich untersucht wird und die Kosten und Dauer eines Prozesses so in die Höhe getrieben werden. Wegen der starken Stellung des Staatsanwalts und des Untersuchungsrichters wird dem Inquisi-tionsprozess teilweise nachgesagt, konservativer und weniger offen zu sein als das Akkusationsverfahren, das als demokratischer gilt.
Anwälte jedenfalls beklagen immer wieder, dass sie zu spät oder gar nicht Einblick in die Ermittlungsakten bekommen, was sich negativ auf ihre Vorbereitung auswirken kann. Denn so gibt es keine Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung, die Voraussetzung ist für einen fairen Prozess. Mit der Umsetzung der Europäischen Richtlinie für Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sollen hierzulande die Rechte der Verteidigung, etwa hinsichtlich des Zugangs zu Ermittlungsakten, Übersetzung von Schlüsseldokumenten, Anspruch auf Rechtsbeistand und anderes mehr, gestärkt werden. Der parlamentarische Justizausschuss berät derzeit über einen entsprechenden Entwurf.
In Frankreich wird nur noch in etwa drei Prozent der Fälle ein Untersuchungsrichter befasst, und interessanterweise räumt auch Biever ein, dass Verfahren dadurch deutlich beschleunigt werden könnten. Aber Beschleunigung und Effizienz seien eben nicht alles, wendet der Autor dann ein. Biever spricht sich gegen eine „aktivere Rolle der Verteidigung“ aus, angeblich weil die Gefahr bestünde, dass jene, die sich keinen guten Anwalt leisten könnten, schlechter da stünden als mit einem „unparteiischen“ Untersuchungsrichter, der belastenden und entlastenden Hinweisen gleichermaßen nachgehen muss. Vielleicht äußert sich Biever aber auch deshalb reserviert, weil eine Grundsatzreform des Verfahrens zwangsläufig auch die Rolle der Staatsanwaltschaft hinterfragen würde. Dasselbe gilt übrigens für die geplante Strafvollzugsreform, die Biever nur am Rande erwähnt, obwohl die Handhabung von Häftlingsbeschwerden oder die Untersuchungshaft aus menschenrechtlicher Perspektive immer wieder problematisch sind. Es darf bezweifelt werden, ob es im Sinne der Gewaltentrennung ist, die Aufsicht des Strafvollzugs bei der Staatsanwaltschaft, also der Anklagebehörde, zu belassen. Als Generalstaatsanwalt hatte sich Biever vehement dafür ausgesprochen. Die eigene Macht zu beschneiden, fällt eben schwerer.
Dass der grüne Justizminister mit seinen Reformplänen für das Justizwesen so weit gehen wird, ist aber eher unwahrscheinlich. Die Zeit läuft ihm fort und bisher ist Félix Braz nicht mit komplexen, mutigen Reformen aufgefallen. Dabei hatte sich die Vereinigung der Strafverteidiger in einem Brief vom November 2013 an die Vertreter der drei Koalitionsparteien DP, LSAP und Déi Gréng „d’ouverture des réformes en profondeur à l’instar du gouvernement Thorn-Krieps des années 70“ gewünscht. Die überfällige Strafvollzugsreform lässt auf sich warten, ebenso die Reform des Scheidungs- und Familienrechts sowie des Jugendschutzes. Er werde Bievers Vorschläge gründlich analysieren, lässt Braz über seinen Regierungsberater Jeannot Berg ausrichten. Zunächst will er Prioritäten bestimmen, welche Vorschläge noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden könnten und sie in einem zweiten Schritt mit den Akteuren besprechen. Einen Zeitplan wollte der Justizminister nicht nennen: Es dauere, so lange es dauere.