Zuweilen kann man das Gefühl haben, dass manche Gruppierungen Uneindeutigkeiten nicht wirklich aushalten könnten. Dass sie Überlegungen in Grauzonen eher vermeiden würden und essentialistisches Schwarz-Weiß-Denken bevorzugen. Zum Beispiel wenn man auf den Internetseiten von Aha, der Allianz von Atheisten und Humanisten, herumstöbert. Eine Art moralische Panik begrüßt einen bereits auf der Startseite. So wird dort auf einen Vortrag von Michael Shermer verwiesen, einem US-amerikanischen Star-Atheisten: „Welchen Beitrag kann die Wissenschaft leisten in Zeiten von Terrorismus, politischem Islam, Nationalismus und Identitätspolitik im Westen?“, wird hier gefragt. Michael Shermer hat darauf auf Einladung von Aha im Jahre 2017 in Luxemburg Antworten geliefert: Gerade die Wissenschaft könne die Menschheit in eine gerechtere und freie Welt sowie in eine bessere Zukunft führen.
Aha Lëtzebuerg wurde 2010 gegründet, unter anderem mit dem Ziel, sich „für einen humanistischen Lebensstil ohne Religion, aufbauend auf einem naturalistischen und rationellen Weltbild“ einzusetzen. Deshalb kann es eigentlich nicht verwundern, dass Aha Religion in Opposition zu wissenschaftlichen Ansätzen definiert, in Bezug zur Evolutionstheorie stellt und auf ihre Plausibilität hin überprüft. In diesem Sinne staunt ein Politologe auf seiner Profilseite von Aha: „Ob-
wuel d’Opklärung an d’Wëssenschaften d’Relioun entzaubert a widderluecht hunn, halen awer och haut nach ëmmer vill Leit u Göttervirstellunge fest. Mee wat bréngt hinnen dee Gott? Säin Zweck besteet jo doran, Saachen ze begrënnen an ze erklären.“ Ein weiteres Verwaltungsratsmitglied, ein promovierter Chemiker, bemüht wie auch Shermer die Kontrastierung von Wissenschaft und Religion. Er behauptet, „die reine Wissenschaft“ flöge die Menschen „zu den Sternen“, die Religion jedoch „in Hochhäuser“; dies sei eine „unwiderlegbare Erkenntnis“. Um seine Mahnung vor monotheistischen Religionen zu unterstreichen, schreibt er, gerade diese trügen „für einen Großteil an Unheil in unserer Welt Mitverantwortung“ und „an deren Händen“ würde „das Blut geradezu heruntertröpfeln“.
Aber auch biografische und anekdotische Begründungen für das Engagement bei Aha werden angegeben und kommen nicht zu kurz. Der aktuelle Präsident schreibt beispielweise: „Seit ich denken kann, kam mir die Kirche immer reichlich heuchlerisch vor, vor allem durch das Auftreten unseres Dorfpriesters in meiner Kindheit.“ Die ehemalige Vizepräsidentin – und aktuelles sozialistisches Regierungsmitglied – weiß nicht, was sie in ihrer Kindheit mehr störte, „dee gekräizegten Jesus, dee mär hu missten faarweg molen“, oder die furchteinflößenden blutrünstigen Geschichten, wie sie schreibt.
Und immer wieder wird der Topos Religion vs. Wissenschaft bemüht. So auch unter der Rubrik „Ethik – frei von Dogmen“. Religionen werden hier als dogmatisches Regelwerk betrachtet, das die Gesellschaften spalte. Demgegenüber könne nur „ein naturwissenschaftliches Weltbild, das die menschlichen Bedürfnisse in ihrer Wirklichkeit zu erfassen vermag“, in der Lage sein, „eine universelle humanistische Ethik zu begründen, die den Ansprüchen nach Selbstbestimmung und Gerechtigkeit aller Menschen Rechnung trägt“.
Hat Aha tatsächlich einen neuen Heilsbringer identifiziert und einen für eine seriöse Debatte tauglichen Religionsbegriff vorgelegt, oder steht diese Analyse auf wackligeren Füßen? Tatsächlich waren die meisten Kriege bis vor dem 20. Jahrhundert oftmals religiös legitimiert und begründet. Jedoch waren die Bereiche „Politik” und „Religion” strukturell vor der Moderne nicht besonders ausdifferenziert. Spult der Hobbyhistoriker nun jedoch lediglich bis ins 20. Jahrhundert zurück, stellt er fest, dass die These von den vornehmlich religiös motivierten Gewalttaten schwerlich zu begründen bleibt. Denn unter anderem vertraten der Nationalsozialismus, der Stalinismus und der Maoismus nicht-religiöse Ideologien. Es sei denn, man möchte Ideologien strukturell ähnlich wie die Religionen analysieren, dem Soziologen Emil Durkheim folgen und behaupten, der Gott einer Gesellschaft sei die spiritualisierte Gesellschaft selbst. (Im durkheimischen Sinne ist Donald Trump ein Guru, der durch das simple Maga-Mantra einen Teil des Volkes in einen kollektiven Rausch versetzt, innerhalb dessen ihr Amerikanisch-Sein zelebriert wird.)
Aber einen solchen Religionsbegriff vertritt Aha nicht. Mit ihrem Verweis auf die angeblich ahistorische Autorität von „Heiligen Schriften“ unter der Rubrik „Gegensätze zwischen Religion und Wissenschaft“ verbreitet die Organisation eher die gleiche Religionsauffassung wie Fundamentalisten. In diesem Denken vermittelt ausschließlich die Schrift Bedeutungsverbindlichkeit. Kulturwissenschaftler und Historiker hingegen betrachten Entwicklungen religiöser Gemeinschaften innerhalb historischer und kultureller Kontexte und stellen dabei immer wieder fest, dass „die Religion“, „das Christentum“ und „der Islam“ im Kollektivsingular eigentlich nicht existieren.
Das vergangene Jahrhundert hat ebenfalls die Widersprüche in Bezug auf technische Entwicklungen offen gelegt. Technische Entwicklungen können tierisches und menschliches Leid verringern oder vergrößern – um ihr Potenzial zu verstehen, muss man demnach genau hinsehen: Reden wir von Penicillin oder von Glyphosat? Das technologische Fortschrittsnarrativ, das einige Aha-Gründer ausmalen, ist nicht in allen Bereichen gegeben. Und gut möglich, dass das 21. Jahrhundert noch einige Überraschungen und Paradoxe in Bezug auf technische Entwicklungen bereithält.
Wie erwähnt, setzen die Religionskritiker von Aha in ihrem Sezierungseifer immer wieder Religionsmitgliedschaft mit Dogmentreue gleich. Für Religionsethnologen besteht allerdings die Möglichkeit, sich immer wieder über die persönliche Aneignung, situative Auslegung und die Transgressionen religiöser Dogmen zu wundern: So gibt es natürlich die Brahmanen, die Alkohol trinken und Fleisch in sich hineinstopfen, bis sie umkippen, obwohl die Schriften dies nicht vorsehen. In den Gebieten des Himalaya gibt es Personen, die angeben, Buddhist und Hindu zugleich zu sein. Nach den Lehrgebäuden beider Religionen ist dies kaum miteinander vereinbar, aber menschliche Flexibilität macht vieles möglich. Es gibt die Sikhs, die Weihnachten mit Christen und Eid al-Fitr mit Muslimen feiern. Es gibt praktizierende Musliminnen, die keinen Schleier tragen und Schweinefleisch essen, sowie Katholiken, die nicht gegen die Abtreibung sind, Ehebruch begehen und noch nie von der Transsubstantiationslehre gehört haben. Die meisten Gläubigen sind eben, wie andere Menschen auch, einfach normal widersprüchlich.
Des Weiteren mahnen die Aha-Aktivisten davor, die katholische Kirche könne öffentlich wirksam die Evolutionstheorie anzweifeln. Freikirchen in den USA fordern tatsächlich, das „Intelligent Design“ solle gleichwertig neben der Evolutionstheorie an Schulen unterrichtet werden – ein Umstand, den man kritisieren darf und soll. Die religiösen Strömungen, die sich in der Vormoderne etabliert haben, treten ihrem Selbstverständnis nach in unseren Breitengraden jedoch kaum noch in Konkurrenz zu den naturwissenschaftlichen Erklärungsansprüchen. Im Gegenteil: Mit ihrem Verweis, sich zunächst mit dem Gegenweltlichen zu beschäftigen, entziehen sie sich dem Bereich der wissenschaftlichen Anliegen. Dies kann der zeitgenössische Mensch intellektuell apathisch finden; die Kritik, Religionen würden die Welt nicht plausibel erläutern, greift in diesem Kontext nicht. Und für neuere religiöse Bewegungen ist der Vorwurf des mangelnden Interesses an Evidenzen nicht allgemeingültig. Die Anthroposophie beispielsweise versucht sich über wissenschaftliche Studien zu legitimieren, wenngleich das Studiendesign nicht immer den akademischen Kriterien entspricht und die Interpretation der Studien viel Deutungsfreiraum enthält.
Letztlich jedoch sind Menschen in den seltensten Fällen Teil einer religiösen Gemeinschaft, weil sie deren Erklärungsmodell dem der Naturwissenschaften vorziehen. Wer mit minimalem sozialwissenschaftlichem Gespür in die Welt blickt, stellt fest, es zählen viele mögliche Gründe: emotionale Bindungen an religiöse Orte; Sinnsuche; der Wunsch nach ekstatischen Erfahrungen oder schlicht auch soziale Alternativlosigkeit und Gewohnheit – Letztere heute vor allem in außerokzidentalen Regionen. Auch steht eigentlich selten eine intellektuelle Annäherung an religiöse Texte, vor allem von Laien, im Vordergrund. Dies ist auch allein schon deshalb nicht immer möglich, weil nicht immer in rituellen Kontexten mit Übersetzungen vorgegangen wird: Juden beispielweise beten das Kaddisch auf Aramäisch. Die liturgischen Texte des Zoroastrismus sind auf Awestisch, eine Sprache, die weltweit nur wenige Gelehrte beherrschen. Hinzu kommt, dass die meisten Texte sich einer rationalen Analyse entziehen, da sie überwiegend in metaphorischer Sprache verfasst wurden. Rituale und Mythen sind demnach keine Hypothesen, die man belegen oder widerlegen kann.
Die Gründe für religiöse Gemeinschaftszugehörigkeit sind also vielfältig. So wie es womöglich diejenigen sind, die Aha-Mitglieder zu ihrem Aktivismus motivieren. Und vielleicht sind diese auch nicht immer unbedingt rational begründet, wie es die biografischen Einblicke auf der Aha-Internetseite vermuten lassen. Vielleicht sind affektive Bewegründe hier mit am Werk: Aversionen gegen ein katholisches Elternhaus oder das konservative Dorfleben eines Luxemburgs der 1960er, 1970er Jahre. Und schließlich bleibt unklar, welches Aha-Mitglied tatsächlich die Atheistenbibel, Die Entstehung der Arten von Charles Darwin, gelesen und studiert hat. Vielleicht handelt es sich beim Verweis auf Darwin zunächst um einen Vertrauenszuspruch in die wissenschaftliche Gemeinschaft, jedoch nicht um angeeignetes Wissen.
In einer Welt, in der eine Zentralperspektive abhanden gekommen ist, kommt es gelegen, klare Kontrastfolien aufzubauen, um sich selber zu positionieren, und sei es um den Preis von hinkenden Karikaturen. Natürlich ist es von Bedeutung, Machtstrukturen von Institutionen und deren Missbrauch zu thematisieren. Anstelle von Religion müssen Kritiker deshalb allerdings keinen neuen gesellschaftlichen Heilsbringer anbieten; im Falle der neuen Atheisten ist es „die Wissenschaft”. In ihrem Heilsangebot gleichen sie dabei aber fast wieder den monotheistischen Religionen, deren größte Kritiker sie eigentlich sein wollen. Aber womöglich schafft es keine Gemeinschaft, innere Kohäsion aufrechtzuerhalten, wenn sie auf Eigennarrative, sprich Quasimythologien, gänzlich verzichtet. In diesem Sinne optiert Aha lieber für eine Ersatzsoteriologie, die sie an der Wissenschaft festmacht, als die Bedeutungslosigkeit der Menschheitsgeschichte zu postulieren.
Aber nicht nur bietet Aha einen hinkenden Religionsbegriff an. Auch in Bezug auf die Begriffe „Wissen“ und „Wissenschaft“ treten Vereinfachungen auf. Aha schreibt beispielsweise: „Wissen ist objektiv.“ Dass es unterschiedliche Wissensordnungen und Objektivitätsbegriffe gibt, wird dabei umgangen. Die rezente Wissenschaftsphilosophie verweist aber eher auf Deutungsop-
tionen in Bezug auf Daten und mehr oder weniger stabilisierte Fakten innerhalb von Netzwerken, die unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche sowie wissenschaftliche und politische Institutionen betreffen. Dass es gesicherte Erkenntnisse in einigen Feldern geben kann, wird dabei aber nicht bestritten.
Für Aha ist Wissenschaft zudem „politisch neutral“. Forschungen werden also nicht vom natio-
nalen Forschungsfonds FNR oder von privaten Firmen finanziert, sondern das Geld für Labore, technische Forschungsgeräte und wissenschaftliche Konferenzen fällt im Aha-Verständnis einfach wie ein Wunder vom Himmel. Das heißt nicht, dass Wissenschaftler nicht um Neutralität bemüht sein können, aber auch sie kommen nicht so recht an der Frage vorbei: Wann und wo beginnt das Politische?
Obwohl der Religionsbegriff von Aha keiner kulturwissenschaftlichen Prüfung standhält und der Wissenschaftsbegriff nicht genügend durchbuchstabiert wurde, hat die Organisation dennoch Verdienste vorzuweisen – wie die Unterstützung der Umsetzung eines einheitlichen Werteunterrichts. Aha weist darauf hin, dass der Werteunterricht vereinbarer sei mit demokratischen Werten als konfessionsbezogener Unterricht. Mehrfach sprechen die Mitglieder die soziale Kontrolle und den vulgären Machtmissbrauch durch das Personal der katholischen Kirchen an, die sie selbst erlebt haben: in Bezug auf den Religionsunterricht oder während Austrittsprozeduren. Insofern erhalten sie die sozialen Gefrierfachtemperaturen des Nachkriegs-Luxemburgs bis ins frühe 21. Jahrhundert in Erinnerung. Zudem hinterfragen sie stets die Intransparenz der religiösen Institutionen, gerade was deren Finanzen betrifft. Andere wichtige Punkte, wie die religiös begründeten Geschlechterbilder, kommen erstaunlich kurz.
Und tatsächlich weist die Bewegung der „Neuen Atheisten“, wie der zeitgenössische politische Avatar des Atheismus genannt wird, zumindest in den USA einige dunkle Flecken auf. Enttäuschte Konfessionslose diskutieren seit einigen Jahren in Quarz, Salon und Buzzfeed, inwiefern die Neuen Atheisten misogyne Ideologien verbreiten. Die eindrücklichsten Beschreibungen enthält der umfassende Essay von Mark Oppenheimer auf Buzzfeed (12.09.2012). Er geht zunächst auf die Vorwürfe gegenüber Michael Shermer ein. Der womanizer genannte und Skeptic Magazine-Gründer Shermer hat angeblich mehrere Frauen sexuell belästigt. Alison Smith ist eine der Frauen, die sich öffentlich dazu äußerte. Sie gibt an, stark betrunken und nahezu bewusstlos gewesen zu sein, als Michael Shermer mit ihr schlief, und betrachtet dessen Handlungen deshalb als nicht einvernehmlich.
Richard Dawkins bestätigte allerdings gleich nach der Veröffentlichung von Oppenheimers Artikel, dass er eine faire Debatte über die Vorwürfe von Frauenfeindlichkeit in der Atheisten-Bewegung lieber verhindern als befördern will. So machte er sich über die Position von Alison Smith auf Twitter lustig: „Officer, it’s not my fault I was drunk driving. You see, somebody got me drunk.“ Er solle nicht unfreiwilligen Sex mit der Entscheidung vergleichen, betrunken Auto zu fahren, hieß es daraufhin. Statt sich zu entschuldigen, twitterte er zurück: „If you want to be in a position to testify & jail a man, don’t get drunk.“ Und äußert damit implizit den Verdacht, das eigentliche Opfer sei Shermer. Die Salon-Journalistin Amanda Marcott fragt im Hinblick auf diese Reaktionen, ob hier nicht ein ähnlicher Schulterschluss zwischen den männlichen Atheisten-Stars stattfände wie innerhalb der katholischen Kirche bei Pädophilie-Anschuldigungen, zumindest als die ersten Fälle bekannt wurden.
Christopher Hitchens, Autor von God is not Great, dachte, er müsse in Vanity Fair erklären „Why Women Aren’t Funny“ (Januar 2007). Dabei versucht er über den Aspekt der Humorlosigkeit eine Verbindung zwischen Religion und Frauen herzustellen: Da Religionen die offiziellen Feinde von Humor seien, könne sich daraus herleiten lassen, warum gerade Frauen, die ebenfalls quasi naturgemäß nicht lustig seien, die „Bankenfüllerinnen“ in Kirchen seien. Auch der Neurowissenschaftler Sam Harris, einer der Anführer der Neuen Atheisten, denkt am liebsten in essentialistischen Kategorien. In einem Interview mit der Washington Post (12.09.2014) erklärt er, weshalb seiner Ansicht nach besonders viele Männer Atheisten sind: „There’s something about that critical posture that is to some degree intrinsically male and more attractive to guys than to women.“ Und er führt weiterhin aus, atheistisches Denken würde auf einen „nurturing coherence-building extra estrogen vibe“ verzichten, anders als religiöse Bewegungen.
Zumindest von Shermer, Dawkins und Harris besteht eine direkte Verbindung zu Aha. Wie erwähnt, hat Aha Shermer nach Luxemburg eingeladen, und unter der Rubrik „Lesetipps” werden jeweils zwei Bücher von Dawkins und Harris gepriesen. Das heißt nicht zwangsläufig, dass Aha frauenfeindlich eingestellt ist. Die Organisation hat sich aber dafür entschieden, bereits bekannten und hochdotierten Autoren zu noch mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, statt weniger sichtbaren Personen Raum zu geben. Die Liste ließe sich noch fortsetzen, aber klar dürfte sein: Ein naturalistisches Weltbild immunisiert nicht vor ethischer Schludrigkeit. (Ein religiöses natürlich auch nicht. Auf der sublunaren Welt sind wir alle menschlich, allzu menschlich.)
Konfessionslosigkeit schützt einen also nicht vor sexistischen Handlungen. Gibt es dennoch Indikatoren, die darauf hindeuten, dass ein konfessionsloses Umfeld beispielsweise zu einem frauenfreundlicheren Klima führt? Vergleicht man das weltweite politische Mitspracherecht von Frauen, ist das Ergebnis gemischt. Ruanda und Bolivien sind derzeit die einzigen beiden Länder, die einen über 50-prozentigen Frauenanteil in ihrem Parlament haben. Dabei liegt die Konfessionslosenrate unter drei Prozent. In Luxemburg hingegen liegt diese Rate bei fast 27 Prozent, bei den letzten Wahlen wurden aber nur zwölf Frauen direkt ins Parlament gewählt. In Japan und Korea werden weniger als 20 Prozent der Parlamentssitze von Frauen besetzt, dabei verbuchen beide Länder weltweit den höchsten Anteil an Atheisten. Es gibt aber auch Länder, die zugleich eine hohe Konfessionslosenrate und eine starke Politikbeteiligung von Frauen aufweisen, wie Frankreich oder die nördlichen Länder Europas. Deutschland wiederum erlebte durch eine christliche Partei, unter Angela Merkel, in den vergangenen Jahren den Hauch eines Matriarchats. Diese Zahlen zeigen demnach vor allem eines: Wir sollten uns verabschieden von monolinearen Erklärungsmodellen, sie sind der Wirklichkeit nicht gewachsen.
Und wie könnten wir eigentlich den Universalitätsanspruch von Aha bewerten? Als Napoleon 1798 in Ägypten einfiel, verfolgte er nicht lediglich militärische Ziele, sondern auch zivilisatorische. In diesem West-Orient-Spannungsverhältnis jedoch werden islamische Reformbewegungen hervorgerufen, die als Beginn des modernen, politischen Islam bezeichnet werden können. Eine Schlüsselfigur ist der Islam-Theoretiker Dschamal ad-Din al-Afghani, der als geistiger Mitbegründer des Salafismus gilt. Seine Überzeugungen greifen dabei direkt europäisches Gedankengut und Werte auf, um sie allerdings in antikoloniale Narrative und islamische Reformprojekte einzubetten. Neben der Beförderung des islamischen Fundamentalismus hatte der europäische Kolonialismus noch viele andere Nebenwirkungen. Insofern haben universal angelegte, weltanschauliche Erziehungsprojekte einen oftmals unerwarteten Ausgang.
Etwas komplizierter wird eine kulturrelativistische Haltung allerdings bei globalen Problemen, deren Lösung einer globalen Zusammenarbeit bedarf, wie das naheliegende Beispiel Klimawandel. Denn wie bereits angedeutet, bewertet nicht jede Kultur a-perspektivistische Objektivität und den Naturalismus als ausschlaggebend: Wie also vermitteln zwischen unterschiedlichen Weltbezügen, Wissensordnungen und Bedürfnissen? Doch könnten wir anmerken: Ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen Naturalismus und Animismus hätte uns vielleicht vor dem aktuellen Öko-Schlamassel bewahrt. Denn der Animismus lehnt eine reine Fixierung auf Wissen ab und lebt sich primär in Beziehungen und einer Umwelt. Im animistischen Denken ist die Welt stets in Prozesse und Relationen eingebettet. Deshalb haben die amerindianischen Gemeindemitglieder der Sarayaku bei der COP21 auch nicht den Erhalt der Artenvielfalt und der natürlichen Ressourcen, die Menschen irgendwann ausbeuten können, gefordert. Nein, in ihrer Stellungnahme haben sie zunächst Beziehungen zwischen unterschiedlichen Organismen betont, die bewahrt werden müssten.
Im Luxemburg des 21. Jahrhundert gehört Atheismus für viele zur weltanschaulichen Basisausstattung. Deshalb weiß ein Großteil der Luxemburger womöglich nicht, ob die öffentlichkeitswirksamste Kampagne von Aha mit dem Spruch „Net reliéis? Stéi dozu!” als Anachronismus oder importierter Amerikanismus einzuordnen ist. Überdies vergessen viele atheis-
tische Szientisten, dass Wissenschaftsbejahung Spekulationen spiritueller Art nicht ausschließt.
Die Diskussion, auf Grund welcher Ideale religiöse Gemeinschaften in einer säkularen Gesellschaft einzuschränken, zu untersagen oder zu bewahren sind, ist philosophisch und rechtlich anspruchsvoll. Eine gute Voraussetzung für das Gelingen dieser Debatte könnte sein, menschliche und gesellschaftliche Pluralität anzuerkennen und uns von essentialistischen Kategorien zu verabschieden.
Verfolgung von Ungläubigen
Trotz aller Kritik an den zeitgenössischen Kategorienfehlern der hiesigen Aha-Allianz sollten wir nicht vergessen, dass Religionskritik, historisch gesehen, selten in dieser öffentlichen Form möglich war. Vor knapp zwei Monaten hat Susan Richter, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg, einen Sammelband unter dem Titel Verfolgter Unglaube herausgegeben. Darin wird erläutert, dass die Verfolgung von Gottlosen im frühen Christentum beginnt. Apostasie, der Aufstand gegen den Bund mit Gott, galt als Blasphemie und wurde strafrechtlich geahndet. Damit einher ging seit dem frühen sechsten Jahrhundert der Entzug des Vermögens und des Rechts, ein Testament aufzustellen. Auf Nachfrage erläutert Susan Richter jedoch, dass „zunächst die Verbreitung atheistischen Gedankenguts im großen Stil als Tatbestand ausgemacht wurde“. Demnach galt nicht der Unglaube als Straftatbestand, sondern seine gezielte Äußerung. „Atheistische Publikationen wurden öffentlich verbrannt, und falls der Autor zu ermitteln war, kam es zu einem Prozess“, erklärt Richter. Um dem Prozess zu entkommen, begaben sich die Betroffenen jedoch in der Regel ins Exil.
Doch auch die Geschichte der Atheistenverfolgung enthält einige unerwartete Verflechtungen. Susan Richter berichtet, dass Verurteilungen den Schriften und ihren Autoren in manchen Fällen zu Popularität verhalfen. „Die Buchprozesse und Verurteilungen müssen deshalb auch als eine wesentliche Chance für die atheistische Literatur begriffen werden, die ihre zeitgenössische Wahrnehmung, nicht zuletzt auch ihre Bedeutung steigerte.“ So wurde der französische Arzt und Materialist Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) nach seiner Verurteilung vom preußischen König Friedrich II. eingeladen und avancierte an dessen Tafelrunde zu einem beneideten Gast. Voltaire nannte ihn den „königlichen Leibatheisten“.
In vielen Ländern werden Atheisten aber noch immer diskriminiert. Susan Richter nennt zunächst die Entwicklungen in Bangladesch: „Dort werden seit 2013 verstärkt Intellektuelle als erklärte Atheisten von Islamisten verfolgt und ermordet – und die Regierung steht dem passiv gegenüber. Bangladesch versteht sich zwar als säkularen Staat, andererseits wurde der Islam zur Staatsreligion erhoben. Die Regierung positioniert sich nicht gegen den starken Einfluss der radikalen Islamisten, die gegen angebliche oder tatsächliche Atheisten kämpfen, sondern verschärft bestehende Gesetze und erleichtert somit die Verfolgung so genannter Ungläubiger.“ Andere Länder, die den Atheismus als Bedrohung von Tradition und Ordnung betrachten, sind asiatische und nordafrikanische wie Saudi-Arabien, Ägypten, Indien, Indonesien und Malaysia. Und auch in den USA beklagen der Historikerin zufolge zahlreiche Atheisten, nicht in Führungspositionen zu gelangen und Diskriminierungen ertragen zu müssen. sm