"Sobald Demenzkranke nicht mehr in der Lage sind, Entscheidungen des täglichen Lebens zu treffen und deren Notwendigkeit zu verstehen, ist es von größter Bedeutung, ihre grundlegenden Menschenrechte wie das Recht auf Selbstbestimmung, die individuelle Freiheit und körperliche Unverletzbarkeit zu garantieren."
So steht es in dem Positionspapier Die Rechte Demenzkranker, herausgegeben von der Organisation Alzheimer Europe im Sommer 2000. Gefördert durch die EU-Kommission, hatte Alzheimer Europe mit Unterstützung durch Ärzte, Juristen und Sozialwissenschaftler in allen 15 Mitglieds-staaten die Praxis im Umgang mit Demenzkranken, aber auch die dabei national jeweils geltende Rechtslage analysiert. "Es gibt Vorreiterländer", sagt die Luxemburger Juristin und Sozialforscherin Nicole Kerschen, die am Pariser CNRS arbeitet und seinerzeit an dem Projekt beteiligt war. Österreich, Deutschland und die skandinavischen Staaten rechnet sie darunter. Zu den Ländern mit Nachholbedarf gehöre auch Luxemburg.
Eine Ansicht, die hier zu Lande nicht nur von Fachärzten und der Association Luxembourg Alzheimer (ALA) geteilt wird, sondern auf Seiten der Regierung insbesondere vom Familienministerium. Neben einer Verbesserung der Versorgung Demenzkranker durch die Pflegeversicherung und ihrer Betreuung in Tagesstätten, Alten- und Pflegeheimen oder durch mobile Dienste besteht das größte Stück Arbeit in eben jener Garantie von Selbstbestimmung - und der Schaffung der Voraussetzungen dafür.
Bis zum kommenden Herbst soll Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) vom Service pour personnes âgées ihres Ministeriums eine Vorlage unterbreitet werden, aus der sich eine Abänderung des geltenden Vormundschaftsrechts ergeben soll. Zuletzt wurden die ensprechendenden Passagen im Code civil durch ein Gesetz im Juni 1982 abgeändert. Seitdem ist kein Gerichtsverfahren mehr nötig, um eine erwachsene Person unter verschiedene Grade von Vormundschaft zu stellen; das zuständige Gericht kann diese Entscheidung allein treffen. Für Demenzkranke gilt diese Regelung sinngemäß, sie werden bisher unter die Tutelle entweder eines Familienangehörigen oder eines Anwalts gestellt. "Das aber schließt nicht aus, dass ein Vormund aus einer Familie berufen wird, in der seit 25 Jahren Krach herrscht", sagt Liane Kadusch-Roth vom Verwaltungsrat der ALA. Und Nicole Kerschen kritisiert, dass die bestehende Regelung in der Praxis so gehandhabt werde, dass unter Vormundschaft für Demenzkranke in erster Linie die Verwaltung von deren Vermögen verstanden wird, nicht aber die Einflussnahme auf so entscheidende Fragen wie: Wo und wie soll der Kranke wohnen? Welche Einrichtung soll seine Betreuung übernehmen? Und wer trifft Entscheidungen am Lebensende des Patienten, etwa über eine passive Sterbehilfe durch Abbruch einer Behandlung? Hier würden sich auch stärker als bisher Fragen zur Kontrolle des Tutors stellen.
Um die zu garantieren, würde Nicole Kerschen etwa die Entscheidung, ob an einem Demenzkranken, bei dem zusätzlich ein Tumor festgestellt wurde, eine Operation durchgeführt werden sollte oder nicht, nicht allein einem Familienvormund überlassen wollen. Deutschland sei da weiter: "Dort befindet in einem solchen Fall ein Richter darüber, ob operiert wird oder nicht - nach Anhörung des Tutors, der Familie, des behandelnden Arztes und eventuell des Patienten selbst." Für fortschrittlich hält Nicole Kerschen darüberhinaus die östlich der Mosel einsetzende Professionalisierung des Tutoriats für Demenzkranke: Spezialisierte Organisationen mit eigens geschulten Personal übernehmen dort immer öfter die Vormundschaft, was Interessenkonflikte zumindest solange ausschließe, wie der professionelle Tutor nicht etwa einem freien Träger angehört, der gleichzeitig Pflegeleistungen gegenüber dem Erkrankten erbringt.
In Richtung stärkerer Professionalisierung und Kontrolle gehen auch die Überlegungen im Familienministerium. Noch sei nichts festgeschrieben, sagt Mil Majerus, Leiter des federführenden Service pour personnes âgées, aber die Familie allein sollte die Vormundschaftsverantwortung künftig nicht mehr tragen. Einerseits, weil die traditionellen Familien nicht mehr überall bestünden, anedererseits weil auch die für das so genannte Dritte Alter zuständige Abteilung im Ministerium immer wieder mit Fällen konfrontiert wird, "wo nach dem Ableben eines Demenzkranken eine Geschwisterpartei einer anderen, die Tutor war, im Nachhinein vorwirft, sie habe Fehler gemacht". Generell zwei Tutoren sollte es in Zukunft geben, lautet der Ansatz der Arbeitsgruppe im Familienministerium: einen, zu dem der Demenzkranke eine intensive Beziehung hat, etwa ein Angehöriger, einen weiteren, der professionell sein soll. Entweder aus einer Institution zur Altenpflege oder ein ehrenamtlicher Tutor, der vorher ausgebildet wurde - Angebote, solche Schulungen zu übernehmen, gebe es bereits.
Dass der Anteil der Älteren an der Bevölkerung beständig wächst, dass nach Schätzungen der ALA derzeit vier Prozent der Bevölkerung demenzkrank sind und 30 Prozent der über 80-Jährigen an Alzheimer, der häufigsten Demenzerkrankung, leiden, dass nach Auskunft der Koordinationsstelle für die Pflegeversicherung die Hälfte der Heiminsassen demenzkrank sind, macht den neuen Ansatz zur gesellschaftlichen Notwendigkeit für das Familienministerium. Ausgehend vom Krankheitsverlauf bei Alzheimerpatienten, soll nach den derzeitigen Vorstellungen der Arbeitsgruppe der Grad der Tutelle in drei Stufen getrennt werden. In einer ersten Phase, die Mil Majerus "die Phase der Erfolglosigkeit" nennt, "in welcher der Betroffene noch Lebensziele hat, sie aber nicht mehr umsetzen kann", sollten die Tutoren lediglich Berater für den Erkrankten sein, entscheiden solle er selbst. In der zweiten Phase "der Orientierungslosigkeit, wenn der Betroffene zum Beispiel Gegenstände nicht mehr erkennt oder Verständigungsprobleme hat", sollten die Tutoren die Enscheidungen treffen, aber nur nach Beratung mit ihren Schutzbefohlenen. Erst in der dritten Phase der "Schutzlosigkeit, wenn der Patient sich nicht mehr wehren kann, wenn er sich etwa vor einer zu hellen Lampe versteckt, wo andere einfach den Aus-Schalter drücken", sollen die Tutoren allein entscheiden.
Insbesondere zur Realisierung des allein beratenden Tutoriats in der "ersten Phase" wird es jedoch mehr als nur eines Recht setzenden Aktes bedürfen: Gegenüber der derzeitigen Praxis würde das Gericht eine Vormundschaft früher beschließen müssen. Das aber setzt voraus, dass die Demenz-Diagnose bereits in einem frühen Stadium erfolgt und den Betroffenen auch mitgeteilt wird. Dass die Luxemburger Ärzte damit zurückhaltend seien, sagt Liane Kadusch von der ALA; Nico Diederich, Neurologe am hauptstädtischen Centre hospitalier, bestätigt: "Nicht wenige Patienten kommen schwer klar mit der Diagnose." Vor allem, wenn sie auf Alzheimer lautet, die gegenwärtig 60 Prozent aller Demenzerkrankungen ausmacht. Es habe, sagt Dr. Diederich, danach auch schon Suizide gegeben, die Verantwortung des Arztes sei daher riesig.
Hinzu komme, dass die präzise Feststellung, worunter der Patient wirklich leidet, beim heutigen Stand der weltweiten Forschung noch immer schwer sei und eine Alzheimer-Diagnose zu Lebzeiten des Patienten nur mit großer, aber nicht hundertprozentiger Wahrscheinlichhkeit gestellt werden könne. Und nicht allein auf diagnostischem Gebiet sieht der Neurologe Handlungsbedarf: Sicher, es komme darauf an, andere Einfluss-faktoren auszuschließen. Durchblutungstörungen im Gehirn, Schilddrüsenerkrankungen, Tumore oder eine einfache Altersschwerhörigkeit könnten Symptome hervorrufen, die auf Demenz hindeuten. Auch Depressionen, die das Entscheidungs- und Sozialverhalten beeinflussen, könnten als Anzeichen für Demenz fehlgedeutet werden.
Viel würde sich Nico Diederich aber von einem Diagnostikzentrum auch in Luxemburg versprechen, einer so genannten Memory Clinic: Die derzeit angewandte Untersuchungsroutine, in der zunächst neuropsychologiosche Tests zur Analyse der Gedächtnisleistungen vorgenommen werden, danach "bildgebende Untersuchungen" des Hirns durch Tomografie, und schließlich eventuell psychiatrische Untersuchungen zur Ermittlung der verbleibendenden kognitiven Potenziale des Patienten könnte dort weiterentwickelt und standardisiert werden. Es könnten sich von dieser Memory Clinic aus aber auch Anleitungen für die Familien von Demenzkranken und für Tutoren verbreiten lassen, die aus medizinischer Sicht wichtig sind: Acht zu geben auf die Strukturierung des Lebens der Betroffenen bereits im frühen Krankheitsstadium - keine Umzüge mehr, keine größeren Reisen, vor allem jedoch die Aufrechterhaltung des sozialen Netzes. "Ganz wichtig ist die emotionale Ebene", sagt Dr. Diedrich, "die Care givers, wie die in der Alzheimerforschung weit fortgeschrittenen US-Amerikaner Familien und Tutoren nennen, müssen gestärkt werden." Würde daraus eine Kultur, würde das den Ärzten die Entscheidung, insbesondere eine Alzheimer-Diagnose früher mitzuteilen, wesentlich erleichtern.
Ein Konzept für eine solche Memory Clinic, die auch die ALA sich für Luxemburg wünscht, existiert bereits - vor über einem Jahr wurde es beim nationalen Forschungsfonds eingereicht, harrt allerdings noch seiner Bestätigung durch das Forschungsministerium. Es sieht allerdings so aus, als führte kein Weg daran vorbei, soll die Reform, die der Familienministerin so am Herzen liegt, nicht an deontologischen Bedenken der Ärzte scheitern.