"L'assurance dépendance a pour objet de compenser les frais générés par le besoin d'assistance d'une tierce personne pour effectuer les actes essentiels de la vie." So steht es ausgesprochen häufig erwähnt in dem Bericht über die Pflegeversicherung, der vor einer Woche dem Regierungsrat vorgelegt wurde. Gerade so, als könnte das übergeordnete Ziel des Pflegeversicherungsgesetzes vom 19. Juni 1998 allen Beteiligten gar nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden. Oder, als bestünde ein Druck, den Geltungsbereich der Pflegeversicherung deutlich auszuweiten, was ohne Änderung am Gesetz nicht zu machen sein wird.
Dem erwähntem Bericht nach zu urteilen, ist beides der Fall. Die Pflegeversicherung, die seit ihrer Einführung am 1. Januar 1999 Medieninteresse vor allem dadurch immer wieder erregte, dass über erhebliche Rückstände bei der Bearbeitung der Anträge zu berichten war, soll nun auch den spezifischen Bedürfnissen Behinderter gerecht werden, dabei auch der wiederum vielfach besonderen Situation behinderter Kinder; sie soll darüberhinaus stärker präventiv wirken, damit eine Pflegebedürftigkeit wenn nicht vermieden, dann doch abgeschwächt oder zumindest stabilisiert werden kann.
Anspruchsberechtigt ist laut Gesetz, wer wöchentlich mindestens 3,5 Stunden Unterstützung bei der Verrichtung der "Actes essentiels de la vie" benötigt: für Körperhygiene, Zubereitung und Aufnahme von Essen sowie zur Fortbewegung. Gewährt werden kann außerdem eine Hilfe bei der Hausarbeit, erstattet wird die Unterstützung zum Erhalt der Autonomie, damit Pflegebedürftige die essentiellen Akte möglichst ohne Hilfe bewältigen können, sowie in begrenztem Maß professioneller Rat für die Bedürftigen und deren Angehörige. Finanziert wird ein eventueller Umbau der Wohnung und die Anschaffung von Apparaten. Übersteigt der Betreuungsaufwand für die essentiellen Akte 24,5 Wochenstunden, ist eine Heimunterbringung angezeigt. Im Rahmen der Pflege zu Haus können die Pflegeleistungen zum Teil in Bargeld erstattet werden, damit ein Aidant informel (ein Angehöriger, ein Nachbar oder eine fremde Person) Aufgaben nicht-professioneller Natur übernehmen kann.
Ein nicht unerheblicher Leistungsrahmen, der zu 45 Prozent über den Staatshaushalt getragen wird. Die Besonderheit des Luxemburger Systems besteht darin, dass nach langen Debatten und zum Teil vehementen Einsprüchen von Gewerkschaften und sozialen Einrichtungen anstelle des deutschen 3-Stufen-Modells ein in Kanada erpobtes System gewählt wurde, das die Pflegebedürftigkeit individuell erfasst. Der finanzielle Mehraufwand ist beträchtlich: hätten im 3-Stufen-Modell einem anerkannt Bedürftigen in der höchsten Pflegestufe monatlich 120 000 Franken zugestanden, betragen heute die Zuwendungen an eine stationär betreute Person im Schnitt 138 546 Franken pro Monat, bei Zuhaus-Betreuung 187 368. Das Maximum bei stationärer Unterbringung liegt bei 252 772 Franken, bei Pflege daheim sind beachtliche 296 695 Franken möglich. Die Unterschiede zwischen Heim- und Zuhauspflege rühren daher, dass der von der Krankenkassenunion UCM gewährte Stundentarif für ambulante Pflege mit 1 820 Franken um 460 Franken höher liegt als der für stationäre Unterbringung, und bei den zuhaus Betreuten Sonderleistungen, wie der Umbau der Wohnung, anfallen können.
Die nötige Feinerfassung der Pflegebedürftigkeit ist ein Grund für den anhaltenden Rückstand der Cellule d'évaluation et d'orientation (CEO) beim Bearbeiten der Anträge. Während der Pflegedebatte 1997/98 getroffene Schätzungen, wonach die Zahl der Leistungsempfänger sich wohl in den darauffolgenden Jahren zwischen 8 000 und 9 000 bewegen dürfte, wurden von der Realität längst überholt: zum 10. April hatte die bei der Inspection générale de la sécurité sociale angesiedelte CEO insgesamt 10 272 Anträge bearbeitet, 9 009 waren positiv beschieden worden. Weitere 4 382 noch unbearbeitete Anträge aber liegen vor, davon 1 069 auf Heimunterbringung, 3 313 auf Zuhaus-Pflege. Monatlich kommen etwa 400 neue Anträge hinzu, genau so viel, wie die CEO nach eigenen Angaben mit ihren vier Bewertungs-Teams derzeit zu bearbeiten im Stande ist. Sollten normalerweise vom Einreichen des Antrags bis zum Bescheid nicht mehr als acht Wochen vergehen, addieren sich zu diesen momentan acht bis neun Monate wegen der aufgelaufenen Rückstände.
Und dieser Umstand hat mittlerweile politische Dimensionen angenommen. Als am Mittwoch der LSAP-Abgeordnete Lucien Lux die Regierung zur Pflegeversicherung interpellierte, nutzte er erwartungsgemäß die Gelegenheit, um gegen den liberalen Sozialminister Carlo Wagner zu polemisieren, der "ein schlechter Kapitän" auf dem schlingernden Schiff der Pflegeversicherung sei. Lux' Empfehlung, man solle nicht nur der CEO schnellstens ein fünftes Bewertungs-Team zur Verfügung stellen, sondern darüberhinaus ausnahmsweise die Pflegedienste selbst zur Einschätzung der Bedürftigkeit heranziehen, hat allerdings ihre Haken.
Besteht doch darüber ohnehin ein Konflikt zwischen der CEO und der Copas, dem Dachverband der Pflegebetriebe. In ihrem eigenen Bericht über die Pflegeversicherung fährt die Copas schweres Geschütz auf und wirft den Bewertern der CEO einen Mangel an Professionalität vor. Gelegentlich würde sich das von der CEO letzten Endes zuerkannte Leistungsvolumen um bis zu 50 Prozent von dem unterscheiden, was die Dienste für nötig erachten. Worauf die CEO in ihrem Bericht antwortet, der Sinn des Pflegeversicherungsgesetzes bestünde eben nicht darin, den einzelnen Dienstleistern zu finanzieren, was sie gerne hätten, sondern den Bedürftigen ein Grundrecht auf das zu gewähren, was ihnen zusteht.
Denn immerhin herrscht Marktwirtschaft im Sektor - seitdem per 1. Januar 1999 das alte System der staatlichen Konventionen für die ambulanten Pflegedienste gestrichen und die ehemals staatlichen Pflegeheime in Etablissements publics umgewandelt wurden. Den Bedürftigen selbst sollte daraus kein Nachteil entstehen, für die bislang über Sozialtarife berechneten Pflegeleistungen, die sich auf 300 bis 500 Franken pro Stunde beliefen und einkommensabhängig vom nationalen Solidaritätsfonds bezuschusst wurden, sollte nun die Pflegeversicherung aufkommen. Die Budgets der konventionierten Betriebe waren früher durchaus günstig gestaltet gewesen: der Staat akzeptierte auch Zuzahlungen von 2 000 Franken pro Stunde. Dass bei Einführung der Pflegeversicherung ein Anfangstarif von stündlich 1 500 Franken für die Actes essentiels festgleget wurde, sollte den Betrieben einen weichen Übergang in die "soziale Marktwirtschaft" ermöglichen, sollte gestatten, dass der Kollektivvertrag für den Sozialbereich, der die dort Beschäftigten an das Niveau des öffentlichen Dienstes heranzuführen festlegt, eingehalten werden kann. Dass auf diesen Kollektivvertrag sich Gewerkschaften und Arbeitgeber nach langen Diskussionen schließlich doch verständigten, hatte nicht unwesentlich damit zu tun, dass beide Seiten hofften, möglichst hohe Niveaus könnten im Pflegebereich Billiganbieter aus dem nahen Ausland abschrecken.
Was bisher auch gelungen ist. Allerdings: im kleinen Lande selbst funktioniert die Martwirtschaft noch nicht so recht. Bei der stationären Pflege stellt sich nicht nur das Problem mangelnder Pflegebetten, verbunden mit der Tatsache, dass eine zentrale Verwaltung der Heimpflege durch die CEO, wie im Gesetz vorgesehen, nicht funktioniert: von den rund 1 600 Heimeinweisungen gingen nur 142 auf Vermittlung der CEO zurück; eine Klausel im Gesetz erlaubt es den Heimbetreibern, zehn Tage nach Freiwerden eines Bettes diesen Platz nach eigenem Belieben neu zu belegen, ehe eine Meldung an die CEO zur Pflicht wird. Dass die Kriterien für eine Bettenvergabe durch die Betreiber objektiv nicht restlos nachvollziehbar sind, erklärte auch Familienministerin Marie-Josée Jacobs am Mittwoch in der Chamber. Ebensowenig sind es die zum Teil horrenden Unterbringungspreise, die ihr Ministerium als Zuarbeit zum Pflegeversicherungsbericht aufgelistet hat und die sich zwischen 37 000 und 84 000 Franken monatlich bewegen. Ob sich dahinter reale Kosten verbergen, ist nicht erwiesen, die Copas räumte während einer Sitzung mit der Generalinspektion der Sozialversicherung ein, manche Heimbetreiber hätten sich gezwungen gesehen, Rücklagen zu bilden, da die Finanzierung nach der Einführung der Pflegeversicherung schwer abzuschätzen gewesen sei. Der bestehende Bettenmangel hat die von seiten der Politik anfangs erhoffte Senkung der Unterbringungspreise zusätzlich verhindert.
Für die Pflegebedürftigen selbst wird die freie Wahl der Einrichtung dadurch zur Illusion, und 250 sind derzeit im Ausland untergebracht; in Belgien zum Beispiel, wo die Unterbringung im Schnitt 45 000 Franken kostet. Doch auch in der ambulanten Pflege ist eine das Leistungsangebot verbessernde Konkurrenz gegenwärtig nicht in Sicht. Ganze vier Netzwerke sind in diesem Bereich aktiv, wobei sich die Association luxembourgeoise d'Alzheimer (ALA) in ihren spezialisierten Tagesstätten ausschließlich um demente Personen kümmert. Von den verbleibenden drei Anbietern, dem nur in den Kantonen Capellen und Esch operierenden Réseau Help, der im Süden und im Zentrum auftretenden Camus und der Hëllef doheem, dominiert Letztere bereits 80 Prozent des Pflegemarktes und ist der einzige Anbieter, der tatsächlich landesweit agiert.
Die aus den Pflegediensten der Caritas hervorgegangene Hëllef doheem ist mittlerweile ein ausgewachsenes Unternehmen mit 550 Beschäftigten und das einzige, das eine professionalisierte Struktur besitzt und von der Zentrale bis zu den regionalen Antennen die Zuständigkeiten klar trennt. Dass laut CEO-Bericht von Camus und Help Koordinationsstellen erst kürzlich eingeführt wurden, heißt nichts anderes, als dass dort der Übergang vom konventionierten System hin zum Markt noch immer Probleme macht. Die Position von Hëllef doheem ist bereits so gefestigt, dass das mit der Croix-rouge verbundene Netzwerk Camus zögert, mit seinem ambulanten Dienst auch im Landesnorden tätig zu werden: dort sind die Entfernungen von einem zu Betreuenden zum nächsten zum Teil so beträchtlich, dass sie die Kosten auf unrentable Höhe anwachsen lassen könnten.
Überlegungen der Dienste - die auch von Krankenkassenunion und CEO sowie von der Regierung geteilt werden -, den Leistungsumfang der Pflegeversicherung auf Behinderte und psychisch Betreuungsbedürftige auszudehnen, sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Lucien Lux warb am Mittwoch in seiner Interpellation für "mehr Vertrauen" in die Dienstleister, denen man nicht unterstellen sollte, nur das eigene pekuniäre Wohl im Sinn zu haben. Dagegen steht die Bemerkung der CEO in ihrem Bericht, dass bei der Erhebung der Anspruchsberechtigung einer zu pflegenden Person die Professionellen vor Ort mitunter nicht so recht zu erklären wüssten, weshalb eine bestimmte Verrichtung unbedingt von ihnen übernommen werden muss und der Betroffene selbst dazu nicht mehr in der Lage sein soll. Mehr Transparenz drängt sich in jedem Falle auf. Nicht nur erhält ein Pflegebedürftiger derzeit keine Detailauskunft über die ihm zugestandenen Hilfs- und Pflegeakte, sondern lediglich über die Zahl der gewährten Pflegeminuten.
Und das auch nur im ambulanten Bereich. Eine Qualitätskontrolle im Sektor fehlt obendrein völlig, wenngleich Carlo Wagner am Mittwoch versprochen hat, für die Ausarbeitung eines Normenkatalogs noch vor den Sommerferien ein Treffen der Action concertée aus allen zuständigen politischen und professionellen Akteuren einzuleiten - die wohlgemerkt das Jahrhundertwerk Pflegeversicherung von Anfang an ständig begleiten sollte, bisher jedoch noch nicht einmal zusammengetreten ist. Und noch ein schwer wiegendes Manko bleibt bestehen: das fehlende Wissen um die Zufriedenheit der Betroffenen selbst mit ihrem Grundrecht.
Eigentlich hatte sie für den Bericht der CEO zum ersten Mal ermittelt werden sollen; aus Zeitgründen und wegen der notorischen Arbeitsüberlastung der CEO aber fiel das flach. Wohin sich ein mit den Pflegeleistungen Unzufriedener denn wenden könne, fragte der grüne Abgeordnete Jean Huss die Familienministerin am Mittwoch.
"Warum nicht an unseren Service pour personnes agées?", antwortete Marie-Josée Jacobs nach kurzem Überlegen. Schließlich sei ihr Ministerium ja nicht mehr Träger von Pflegeeinrichtungen und deshalb einigermaßen objektiv. Ohne verbindliche Qualitätsnormen aber ist auch eine Regierungsinstanz ohne Entscheidungs- und Sanktionsgewalt, und die "soziale Marktwirtschaft" wegen der Liberalisierung des Sektors zunächst mal kapitalistisch.