So manche Regierung sollte sich besser ein neues Volk wählen. Selbst in der prosperierenden Schweiz stimmte eine knappe Mehrheit gegen mehr Einwanderung, obwohl – oder vielleicht auch weil – der Bundesrat, sämtliche politische Parteien (außer der rechten SVP und den Tessiner Grünen), Mahner aller Art und nicht zuletzt die EU mit Unbill drohten. Heinz Karrer, der Präsident des Wirtschaftsverbands Economiesuisse, erklärt diese Ohrfeige für die Eliten mit „Vertrauensschwund“ bei der Bevölkerung.
Dass die übrigen Europäer ähnlich abstimmen würden, wenn sie denn dürften, zeigt besonders das neuste Baromètre de la confiance politique der Pariser Hochschule Science Po: Mittlerweile sind 67 Prozent der Franzosen der Meinung, es gebe bei ihnen „trop d'immigrés“. Vor fünf Jahren fanden das erst 49 Prozent. Zwei Drittel der 1800 Franzosen, die Ende letzten Jahres befragt wurden, fühlen sich „im eigenen Land nicht mehr zu Hause“ und nicht mehr „wirklich Teil einer Gemeinschaft“. Vertrauen ist in diesem Zusammenhang kaum der rechte Ausdruck. Als Professor Pascal Perrineau im Januar die Ergebnisse vorstellte, sprach er von „kollektiver Depression“ und „schwindelerregenden Zahlen“.
Ihre Befindlichkeit geben die Franzosen vor allem mit „morosité“ (34%), „lassitude“ (31%) und „méfiance“ (30%) an. Bei Politik denken sie an „méfiance“ (36%), „dégoût“ (31%) und „ennui“ (11%) – „respect“ hat nur ein Prozent, was statistisch eigentlich nicht zählt. Ganze 87 Prozent meinen, dass die Politiker „nur an sich selbst denken“ - das könnte ein Problem sein in einer repräsentativen Demokratie. Dass diese in Frankreich schlecht funktioniere, finden 69 Prozent – 2009 waren das erst 48 Prozent. Vertrauen genießen Krankenhäuser (79%), Armee (74%) und Polizei (68%), weniger dagegen Banken und Gewerkschaften (beide ca. 28%) oder Medien (23%) – und schon gar nicht politische Parteien (11%). Am ehesten trauen die Franzosen dem Bürgermeister ihres jeweiligen Wohnorts über den Weg (61%), am wenigsten den EU-Abgeordneten (27%) und Präsident Hollande (20%).
Ein Drittel der Franzosen will den Franc zurück, zwei Drittel möchten weniger Befugnisse für die EU. Dass Frankreichs EU-Mitgliedschaft eine gute Sache sei, finden noch 35 Prozent (minus 12 Prozentpunkte seit 2009). Der EU vertrauen 55 Prozent der leitenden Angestellten, aber nur 20 Prozent der Arbeiter. Der Politologe Brice Teinturier fragt sich, ob man da überhaupt noch von „den Franzosen“ sprechen könne: Die Vision der Eliten zu Globalisierung und Zukunft sei gar nicht so pessimistisch, in der Unterschicht dagegen „spektakulär anders, ja zutiefst beunruhigend“.
In Deutschland hat die von einem Tabakkonzern finanzierte BAT-Stiftung für Zukunftsfragen Schwierigkeiten, für ihre Umfragen zum Politvertrauen neue Überschriften zu finden. Im Jahr 2009 meldete sie: „Bürger verlieren Vertrauen in Politik“. Weiter ging es mit „Misstrauen. Unzufriedenheit. Frustration. Warum immer weniger Bürger zur Wahl gehen“. Und 2012 fand sie: „Das Vertrauen in Politik erreicht neuen Tiefpunkt“. Von den befragten 2.000 Bundesbürgern trauten zuletzt nur 10,4 Prozent den Bundespolitikern, noch weniger den Lokal- und Gemeindepolitikern (7,2%) und den Europapolitikern (6%). Dabei sind die Werte bei Ostdeutschen und „gering verdienenden Bevölkerungsgruppen“ jeweils viel niedriger. Professor Ulrich Reinhardt, der Leiter dieser Untersuchungen, konstatierte: „Das Vertrauen in die Politik ist fast gänzlich aufgebraucht.“ Man kann auf die nächste Erhebung gespannt sein.
Bereits veröffentlicht ist das „Eurobarometer“ vom Dezember 2013, für das im Auftrag der EU-Kommission in jedem EU-Staat zwischen 500 und 1500 Bürger befragt wurden. Demnach ist europaweit das Vertrauen in die jeweiligen nationalen politischen Institutionen seit 2009 von 32 auf 23 Prozent abgesackt, das in die EU von 48 auf 31 Prozent. Die unlängst von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz geäußerte Einschätzung, in manchen Kreisen seien „Schweißfüße und die EU auf der gleichen Ebene“, ist korrekt: 41 Prozent der Befragten sind gegen EU und Euro (plus 8 Prozentpunkte). Wer den Euro noch nicht hat, will ihn auch nicht einführen: Mehr als 70 Prozent der Briten, Schweden und Tschechen sind dagegen.
Auffallend ist, dass sich im traditionell europafreundlichen Italien neuerdings 53 Prozent „nicht als Bürger der EU“ fühlen – viel mehr als in Deutschland (26%) und fast so viele wie in Großbritannien (56%). Brav sind dagegen die Luxemburger, die sich zu 85 Prozent als Europäer bezeichnen. In ganz Europa haben noch 31 Prozent ein positives Bild der EU (minus 17); die Mehrheit (39%) ist unentschieden. Dabei gibt es große regionale Unterschiede. Dass „ihre Stimme in der EU zählt“, glauben zum Beispiel nur 11 Prozent der Zyprer, aber immerhin 42 Prozent der Luxemburger. Pessimistisch zur Zukunft der EU äußern sich 43 Prozent der Europäer (plus 16).
Arbeitslosigkeit ist in 22 Staaten die Hauptsorge; die 49 Prozent Luxemburger entsprechen dabei genau dem EU-Durchschnitt. Deutsche und Balten kreuzten vor allem „Inflation“ an. Dass Einwanderung das „derzeit wichtigste Problem“ sei, finden nur die Bewohner Maltas (63%). Die rasant wachsende Staatsverschuldung irritiert laut „Eurobarometer“ lediglich Deutsche, Österreicher und Finnen, nämlich jeweils rund ein Viertel. Aus der Reihe fallen die 38 Prozent Luxemburger, für die „Wohnungsbau“ problematisch ist – für die übrigen Europäer ist dieses Thema so unwichtig wie Umweltfragen oder Terrorismus (meist 2% bis 5%).
Deutschland, Österreich, Malta und Luxemburg sind die einzigen Euro-Länder, in denen Mehrheiten die wirtschaftliche Lage als „gut“ einschätzen – dagegen sind in Frankreich, Italien und sieben weiteren Staaten mehr als 90 Prozent vom Gegenteil überzeugt. Eine Wirtschaftspolitik für alle dürfte da schwierig werden. Überhaupt bleibt bei all den Statistiken eine spannende Frage: Wie viel Misstrauen verträgt eine Gesellschaft, deren Geldsystem auf Vertrauen basiert?