d'Lëtzebuerger Land vom 14.02.2014
„Ich glaube nicht, dass wir in Schifflingen noch weitermachen können“, sagte Arcelor-Mittal Vorstandsmitglied Michel Wurth vergangenen Freitag RTL Radio, nachdem der Konzern einen Nettoverlust von 2,5 Milliarden Dollar für 2013 bekanntgegeben hatte. Dass diese Aussage kaum noch für Aufregung sorgte – lediglich der CSV-Abgeordnete Marc Spautz stellte zum Thema eine parlamentarische Anfrage an den Wirtschaftsminister –, zeigt, dass die Strategie des Konzerns aufgegangen ist. Durch ein Provisorium hat er Fakten geschaffen und Mitarbeiter, Gewerkschaften und Öffentlichkeit auf die definitive Schließung vorbereitet, ohne diese je zu beschließen. Die Chronik des angekündigten Todes des Schifflinger Stahlstandorts ist folgende: Anfang 2011 teilte der Konzern erstmals mit, Arcelor-Mittal Rodingen und Schifflingen (AMRS) müsse restrukturiert werden, 262 Stellen standen auf dem Spiel. Im Frühling 2011 besprachen die Sozialpartner einen Rettungsplan, der im Juni 2011 offiziell beschlossen und mit Schlagzeilen wie „Rodange et Schifflange sauvés“ gefeiert wurde. Der Pate der Luxemburger Stahlindustrie, der inzwischen verstorbene John Castegnaro, warnte, ein solcher Stellenabbau dürfe nicht zur Regel werden. Knapp drei Monate später, im September, war der eben beschlossene Rettungsplan bereits hinfällig. Ab Oktober, kündigte der Konzern an, würden die Maschinen im Stahlwerk Schifflingen zeitweilig stillstehen. Das „zeitweilig“ wollten die Gewerkschaften der Konzernführung nicht abkaufen. „Wir fürchten, dass die Produktion nie mehr aufgenommen wird“, so der damalige LCGB-Generalsekretär Patrick Dury. Und OGBL-Sekretär Jean-Claude Bernardini meinte: „Wir glauben nicht daran, dass es nur vorübergehend sein soll.“ Vorwürfe, die der Konzern von sich wies. Je nach Konjunkturlage werde von Quartal zu Quartal bewertet, ob das Werk wieder angefahren werde oder nicht. Nur zwei Quartale später, im März 2012, teilte Arcelor-Mittal mit: „Arcelor-Mittal Rodange und Schifflange beabsichtigt, Elektroofen und Stranggussanlage in Schifflange länger stillzulegen.“ Die Stilllegung erfolge auf „unbestimmte Zeit“ – eine Formulierung, die den provisorischen Charakter der Maßnahme unterstreichen sollte. Gegen Vorwürfe, zur definitiven Schließung fehle nur noch das Eingeständnis des Managements, wehrte sich der Konzern weiterhin. Ein bisschen zynisch ist es deswegen schon, wenn man bei Arcelor-Mittal sagt, dass es kein „Scoop“ sei, dass man in Schifflingen „nicht weitermachen kann“. Denn ein offizielles Verdikt zur Schließung hat der Konzern nie gefällt. Das muss er auch nicht. Die Entscheidung wird ihm in Kürze abgenommen. Laut Kommodo-Gesetzgebung verliert eine Produktionsanlage, die drei Jahre lang stillsteht, automatisch die Betriebsgenehmigung, und im Oktober 2014 jährt sich die „zeitweilige“ Stilllegung des Schifflinger Stahlwerks zum dritten Mal. Da die angeschlossenen Walzwerke noch einige Monate auf Sparflamme funktionierten, könnte, je nachdem, wie man den Perimeter der Produktionsanlage definiert, die Genehmigung noch ein bisschen länger gültig sein. Doch spätestens 2015 wäre Schluss. Dass das Grundstück dann zur Industriebrache wird, die jahrelang immer weiter verfällt, scheint im Fall von Schifflingen eher unwahrscheinlich. Denn seit der Reform des Kommodo-Gesetzes gelten neue Regeln. Sie besagen, dass 60 Tage nach Einstellung der Aktivitäten die zuständigen Minister und Gemeinden die Bedingungen zur Instandsetzung des Grundstücks festlegen. Und dass die Produktion eingestellt ist, können die Behörden seit der Gesetzesreform auch selbst feststellen, wenn die Betriebsgenehmigung ausläuft. Eine Benachrichtigung durch den Betreiber ist nicht mehr zwingend notwendig. Konkrete Pläne gebe es für das Areal noch nicht, sagt Michel Wurth gegenüber dem Land, identifiziert aber drei Etappen auf dem Weg zu einer anderen Nutzung. Erstens: den Abriss der Anlagen. Zweitens: die historische Analyse der Aktivitäten und deren Folgen auf die Belastung des Bodens. Drittens: die Analyse der konkreten Nutzungsmöglichkeiten des Grundstücks an der Grenze der Gemeinden Esch und Schifflingen. „Das wird im Dialog mit den Behörden und den Gemeinden geschehen“, sagt Wurth, „die Gemeinden sind Herr über ihren Flächennutzungsplan.“ Dass man nicht abgewartet hat, bis diese Prozedur lanciert ist, bevor man weitere Fakten geschaffen hat, zeigte eine Reportage von RTL Télé am Mittwochabend. RTL zeigte ein Amateur-Video vom teilweisen Abriss des Stahlwerks und eine wütende Escher Bürgermeisterin Vera Spautz, die sich darüber beschwerte, dass der Genehmigungsantrag für die Abrissarbeiten erst vor wenigen Tagen bei der Stadtverwaltung eingegangen sei. Weil ohnehin niemand dem Konzern den „zeitweiligen“ Charakter der Werksschließung hatte abnehmen wollen, war das Lux-2016-Abkommen der Stahl-Tripartite von 2012 allgemein so interpretiert worden, dass man Schifflingen opfern werde, um dafür die anderen Produktionsstandorte in Luxemburg zu sichern. Die Begleitmaßnahmen der in Lux-2016 vorgesehenen Restrukturierung würde den Staat bis 2016 zwischen 150 und 155 Millionen Euro kosten. Arcelor-Mittal würde im Gegenzug zwischen 150 und 200 Millionen Euro in den Unterhalt und die Modernisierung der anderen Anlagen investieren. Darüber hinaus war die Regierung bereit, dem größten Industrie-Konzern des Landes mit weiteren 60 Millionen Euro entgegenzukommen, indem der Arbeitgeberbeitrag an der „préretraite-ajustement“ auf Null gesenkt und die maximale Kurzarbeitsdauer von sechs auf zehn Monate jährlich erweitert wurde. Im Gegenzug dafür würde Arcelor-Mittal bis zu 250 Millionen Euro in eine neue Walzstraße für eine neue Generation von Spundwänden investieren. Sollte diese Investition nicht erfolgen, die bis Ende 2013 vom Konzern bestätigt sein sollte, würde dieses „Bonbon“ gestrichen, hatte Schneider mit Nachdruck erklärt, fest entschlossen, sich von Arcelor-Mittal nicht alles bieten zu lassen. Gemeinsam mit dem französischen Amtskollegen Arnaud Montebourg, zuständig für die Reindustrialisierung, den Schneider im Juli 2012 in Luxemburg empfing, hatte er in Europa Front machen wollen gegen die Werksschließungen des Stahlkonzerns und gegen die industrie-feindlichen EU-Rahmenbedingungen. In der Zwischenzeit ist die Kampfesstimmung wohl einer gewissen Ernüchterung gewichen. Arcelor-Mittal sei bereit, 35 Millionen Euro in Belval zu investieren, sagteMichel Wurth diese Woche, eine Investition, durch die die technischen Kapazitäten der Walzstraße 2 auf Belval erweitert würden. Dies will er in einer neuen Stahltripartite festhalten als Teil eines neuen Industrieplans, zu dem für ihn neben dem eben beschlossenen neuen Tarifvertrag weitere Elemente gehören, die derzeit noch verhandelt werden. Mit Regierungsvertretern wird nach Möglichkeiten gesucht, wie die Stromkosten gesenkt werden können, beziehungsweise welche Möglichkeiten die europäischen Schadstoffemissionsregeln von der Schließung oder Delokalisierung bedrohten Industrien bieten. Die Logistik, beziehungsweise deren Kosten, gemeint ist CFL-Cargo, sind ebenfalls ein Thema. Doch inwiefern das jetzige Investitionsvorhaben noch dem entspricht, was die Regierung sich als Gegenleistung für die 60 Millionen Euro aus dem Lux2016-Plan versprochen hatte, wird unterschiedlich interpretiert. Konkret engagiert hatte sich Arcelor-Mittal laut Abkommen zu nichts, außer dazu, das Projekt bis Ende 2013 zu studieren. Deshalb waren im Text Neuverhandlungsklauseln vorgesehen, die es sowohl der Regierung, als auch Arcelor-Mittal erlauben sollten, daraus auszusteigen. Das 250-Millionen-Euro-Projekt, erklärt Michel Wurth, habe sich bei näherer Analyse als unrentabel erwiesen. Deshalb habe man weitere Studien erstellt und nach Möglichkeiten gesucht, „die Kapazitäten der bestehenden Straße auszubauen, die Produktpalette zu erweitern und dadurch die führende Position der Straße zu erhalten“. Dies sei die erste Phase dieses Projekts, die 2014 und 2015 umgesetzt werden soll. „Die zweite Phase folgt darauf“, so Wurth, „ist aber noch nicht definiert.“ Nicht nur deshalb mehren sich in Arbeitnehmerkreisen Zweifel darüber, ob durch diese Investitionen Belval wirklich abgesichert ist. Denn laut Lux2016 fielen auf der Walzstraße 2 in Belval bis 2016 ohnehin Investitionen von rund 154 Millionen Euro an, rund 37 Millionen Euro davon allein auf der Walzstraße zwei sowie 20 Millionen Euro für die Wartung und Instandhaltung derselben Straße. Die nun angekündigte Investition erlaube lediglich den Fortbestand der Anlage, lautet deswegen die Kritik. Michel Wurth sieht das anders: „Wir gehen strategisch in Richtung Modernisierung von Belval und der Walzstraße 2 und die wird auf der Zeitschiene progressiv umgesetzt.“ „Die Regierung ist ebenfalls überzeugt, dass dies das richtige Mittel ist, um Belval als Spundwand-Standort mittelfristig zu sichern“, fügt er hinzu. Das kann Wurth sagen, weil vergangenen Herbst ohne viel Aufwand die Sonderbestimmungen über die Kurzarbeit bis 2015 weitergeführt wurden und die préretraite-ajustement weiterläuft – der Staat hält seinen Teil der Abmachung ein. Ob dies einem unerschütterlichen Glauben daran, dass Arcelor-Mittal die ursprünglichen Bedingungen erfüllt, geschuldet ist, oder der Einsicht, dass es keine andere Möglichkeit gibt? Ob eine Investition in der Größenordnung zu Zeiten, da der Konzern mit dem Willen des Verzweifelten gegen die Überschuldung kämpfte und weiter kämpft, deshalb fast alle größeren Investitionsprojekte weltweit auf Eis gelegt hatte, überhaupt realistisch war? Dass sich auch die Gewerkschaften mit Kritik sehr zurückhalten, kann man getrost als Hinweis darauf werten, dass keine der Vertragsparteien der Stahltripartite ein Interesse daran hat, das Abkommen in Frage zu stellen und ins Wackeln zu bringen. Denn als Alternative zum Tripartite-Abkommen mit Beschäftigungsgarantie für die Mitarbeiter stehen bei künftigen Restrukturierungen mit Personalabbau Sozialpläne mit Entlassungen in Aussicht. Dabei stellt sich die Frage, für wie viel Aufregung eventuelle Entlassungen in Luxemburg überhaupt noch sorgen würden. Der Widerstand der Schifflinger und Escher Bürger gegen die Asphaltanlage in der Industriezone Um Monkeler wurde oft mit dem Kommentar begleitet: „Nach der Schließung des Stahlwerks dachten wir, jetzt hört die Verschmutzung endlich auf.“ Eine Aussage, die darauf schließen lässt, dass von den Anrainern kaum noch jemand sein Gehalt im Stahlwerk verdiente, höchstens die (Früh-) Rente dort erarbeitet hatten; der Mitarbeiterstab zunehmend mit Nicht-Gebietsansässigen besetzt ist und die Gebietsansässigen sich damit abgefunden haben, dass die Stahlherstellung und Verarbeitung in Luxemburg eine „industrie crépusculaire“ ist.
Michèle Sinner
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