„Es ist ein Familientreffen“, sagt Ronald Dofing. Für viele Menschen ist dieser Satz mehr Last denn Freude. Wenn sich die schweigsame Tante aus dem Ösling oder der mürrische Onkel von der Mosel zum Stelldichein ankündigen. Mitsamt der Bagage. Das mag einerseits die Sehnsucht nach einem Stück Kranzkuchen wecken, andererseits als Elegie – mitsamt Tragödie – von heiler Welt und umklammernder Familie abschrecken. Fotos, Bilder und Erinnerungen, die von solchen Familientreffen bleiben, vergilben schnell, wenn sie auch noch so fachmännisch mit Fotoecken in einem Album archiviert wurden und nur noch dann ans Tageslicht gezerrt werden, wenn Großvater etwas zu erzählen hat. Ganz im Gegensatz zu den Bildern, die Kurator Dofing zu einer Wiedersehensfeier mitbringt. Sie sind bunt, schwarzweiß, provokant, provozierend, energiegeladen, positiv, abstrakt, schräg, groß, klein, freundlich, kritisch und derzeit in der Maison de la culture in Diekirch zu sehen.
Hierhin hat Dofing eingeladen zu einem ganz besonderen Stelldichein der Familie: Aller Retour Luxembourg Berlin. Unter diesem Titel bat er Künstlerinnen und Künstler aus Luxemburg und Deutschland zu diesem besonderen Rendezvous. Was sie verbindet: Sie alle leben und arbeiten ganz oder teilweise in Berlin. Genauer gesagt: in Kreuzberg. Jenem Bezirk der deutschen Hauptstadt, der noch immer von seinem Nimbus fliegender Pflastersteine und brennender Straßenbarrikaden in Mainächten lebt, wenngleich auch längst schon die Hausfrau diesen Kiez für sich erkämpft hat, die im Geländewagen zum Biomarkt fährt. Klischees. Das wilde Kreuzberg trifft auf das provinzielle Diekirch. „Kulturschock“ heißt es zur Eröffnung der Ausstellung. Zwei Mal. Drei Mal. Was braucht es da noch an Kunstwerken?
Von Patricia Lippert, Manfred Kirschner, Bertrand Ney, Marc Schroeder, Veronika Schumacher, Claude Thoma, Silke Thoss und Barbara Wagner. Das Œuvre dieser Künstlerinnen und Künstler aus Luxemburg und Deutschland könnte kaum unterschiedlicher sein. Folgerichtig kann eine Gemeinschaftsausstellung der luxemburgischen Gemeinde in Berlin mit ihrem deutschen Freundeskreis nur in Diekirch stattfinden. Urbanes Chaos sucht sich einen Ruhepol in ländlicher Abgeschiedenheit. Und findet diesen. Ganz ohne Klischees.
Der vorurteilsfreie, doch kreative Gegensatz zwischen Berlin auf der einen Seite und Diekirch – als pars pro toto für Luxemburg – auf der anderen Seite ist das Momentum der Schau, die das krea-tive Chaos und die schaffende Vitalität mit der reflektierenden Kontemplation verbindet. In der Ruhe, wenn nicht Stille, von Diekirch bleibt Zeit zum Betrachten, Anschauen, zur Reflexion der Werke, was in der deutschen Hauptstadt aufgrund der Großstadthektik und des permanenten Überangebots kaum gelingt. In Diekirch bleibt Zeit zum Verweilen. Dann entdeckt man im Werk des luxemburgischen Fotografen und früheren Investmentbankers Marc Schroeder feine Nuancen, kleine Details, die reduzierte Formensprache, aber auch die starke Aussage der kleinformatigen Fotos in Schwarzweiß. Sie verlangen vom Betrachter, dass er seine vorbeieilende Distanz aufgibt, näher tritt und genau hinschaut. Die Momentaufnahmen Schroeders stehen in direktem Zusammenspiel mit den großformatigen, bunten, plakativen Werken von Silke Thoss. Sie hält mit den Botschaften in ihren Bildern nicht hinterm Berg: All Gallerists I Slept With als ironische Anspielung auf den heutigen Kunst- und Kulturbetrieb, mit Hope Cola die Auseinandersetzung mit Werbeikonen. Thoss’ Bilder greifen die Formensprache von Reklameplakaten auf und übertragen sie ins Künstlerische, sie verfremden, übertreiben, zeichnen nach. Claude Thoma hingegen spiegelt zurück. Ihre Landschaftsaufnahmen, in der Bildsprache streng und zurückhaltend, reflektieren die dem Foto innewohnende Form. Dies erreicht Thoma dadurch, dass sie einzelne Linien aus Landschaftsaufnahmen aufgreift und mit einem anderen Motiv des Bilds nachzeichnet. Bild und Form im Bild.
Barbara Wagner aus Esch bleibt vordergründig im Abstrakten. Ihre feinsinnigen Werke offenbaren eine erste, schnelle Deutung in erkannten Formen und Figuren, die auch eine weitere Deutung zulassen, so dass sich hinter der betrachteten Realität eine weitere Ebene öffnet, die dahinter liegende, hintergründige Wahrheit. Bevorzugt Wagner das kleine Format, mag es Veronika Schumacher gerne groß, ganz groß. Und bleibt dennoch grazil. Ihre großformatigen Zeichnungen explodieren scheinbar von der Detailtreue der Künstlerin – oder aus dem Prozess, wenn sich das Innerste nach außen kehren möchte, wenn sie Träume, Sehnsüchte und Visionen offenbaren und in Kunstwerken artikulieren. Der Tausendsassa der Schau ist zweifelsohne Manfred Kirschner. In seiner überbordenden Krea-tivität übersetzt er den Alltag in seine Sprache, indem beispielsweise Einkaufstüten die hohen Weihen eines Kunstwerks erhalten. Seine Ausstellungen begleitet er gerne mit einer Performance aus Schauspiel und Wort.
Die Ausstellung ist zweigeteilt. Neben der Maison de la culture ist auch die Laurentiuskirche in die Schau einbezogen. Hier zeigen Patricia Lippert und Bernard Ney ihre Werke. Das Manko der Kirche führt zu einer engen, sehr engen Hängung der Bilder von Lippert, woraus sich eine eigene Kraft entwickelt, die sich vor allen Dingen im bewusst hinterfragend-respektlosen Umgang mit dem Ausstellungsort „Kirche“ speist. An der gegenüberliegenden Seite zeigt Bertrand Ney sein umfangreiches Schaffen aus Bildhauerei und Malerei. Im unbemerkten Mittelpunkt dabei ein Januskopf. „Er steht für mich sinnbildlich für die momentane Zeit, in der wir leben, in der nichts mehr statisch, nichts mehr sicher ist, alles eine zweite Seite, ein zweites Gesicht hat“, erklärt Ney.
Es ist nicht nur der Gegensatz von Berlin und Luxemburg, sondern auch die Auseinandersetzung mit der kulturellen Identität der Heimat und wie weit deren Erbe das eigene künstlerische Wirken bestimmt. „Für mich gleicht Luxemburg einer amerikanischen Vorstadt, von der aus man in die Welt fährt, um zu arbeiten, und abends oder am Wochenende zurückkehrt, um den Rasen zu mähen“, so Marc Schroeder zu seinem Verhältnis zur luxemburgischen Heimat und zum Arbeitsort Berlin. Die Diekircher Ausstellung entstand aus privater Initiative und ohne Fördermittel. Für Kunstbegeisterte bietet sie auch einen Einstieg in den Markt der Gegenwartskunst – zu Berliner Preisen. Doch keine Schau ohne Manko, das sich allerdings beheben lässt. Bei der Vernissage am vergangenen Freitag fanden nur wenige Interessierte den Weg in das Diekircher Kulturhaus. Die Angst vor der Familie ist mehr als unbegründet. Sie langweilt nicht mit längst vergessenen Dramen, sondern hat einen frischen Blick auf urbanes Chaos in ruhiger Distanz.