Realität. Was genau ist Wirklichkeit? Anne Michaux steht am Fenster ihres Ateliers. Sie blickt auf ein ungastliches, unwirkliches Gewerbegebiet am Rande von Berlin. „Ich mag dieses Unfertige, Unschöne, dieses nicht Durchgestylte der Innenstadt, hier ist die Stadt real für mich, ganz real.“ Hier seien Menschen auf den Straßen unterwegs, keine Reisenden. Die luxemburgische Künstlerin schaut in den frühen Frühlingstag, in die gleißende Sonne, auf öde Straßen, auf einzelne Geschichten, kleine Begebenheiten, beiläufige Details, die sich zu einem Bild des Lebens am Stadtrand zusammenfügen. Eine Wahrnehmung von Wirklichkeit, die sich im Atelier der Künstlerin widerspiegelt. Es wirkt nur vordergründig als ein Ort unbändiger Kreativität, als ein Chaos aus dem Kunst und Werke entstehen, wie es Klischees Künstlerhorten andichten und nachsagen möchten. Der spartanische Raum in einer ehemaligen Kaserne hat seine eigene Struktur, die viel über den Menschen Anne Michaux, über die Künstlerin und deren Werk aussagt.
Das Atelier ist die Blaupause ihres Schaffens, die Metaebene ihres Werks, das dahinterliegende Konzept. Was zunächst zufällig und „unordentlich“ wirkt, lässt schnell ein ordnendes Raster erkennen. Es sind einzelne Stellen, an denen ihr Werk entsteht: hier der Tisch, auf dem sie ihre Dioramen inszeniert, dort eine Nähmaschine auf dem Boden, auf der ihre Werke zusammengenäht werden. Sie fühlt sich sichtbar wohl in diesem Raum, der unfertig erscheint, in der vordergründigen Unordnung. Das dahinterliegende Muster öffnet sich erst auf den zweiten Blick. Dieser zeigt, wie sehr Michaux im Heute verankert ist – in der Politik, die sie zornig macht, in der Gesellschaft, die sie ratlos zurücklässt. „Ich habe Angst vor der Normalität und Durchschnittlichkeit, auf die unsere Gesellschaft mit aller Macht zusteuert, für die sogar gesellschaftlichen Gruppen kämpfen“, spricht sie. „Man darf sich nicht dagegenstellen oder dagegen sein, gegen diesen Drang nach Normalität.“
Michaux schafft eine Kunst, in der sich schnell der rote Faden findet. Er ist nahezu offensichtlich, Bestandteil des Werks und dessen kräftigste Aussage, dessen feinsinniger Anteil. Er ist offensichtlich, im übertragenen, wie im fassbaren Sinne, wenn die Künstlerin ihre Werke zerteilt, um sie – mit einem sichtbaren Faden – wieder zusammennäht. Die Zartheit des realen Fadens auf der einen Seite verfängt, die deutliche Aussage des künstlerischen Mittels auf der anderen Seite steht nur scheinbar im Widerspruch dazu. Auch, dass der Faden nicht rot ist, wie es die literarische Überhöhung verlangt, sondern in einer hellen, schrillen aufdringlichen Neonfarbe – grün, gelb, orange. Anne Michaux folgt in ihrem Werk dem Diktat von Wirklichkeit, der Aufhebung der Realität, dem Aufbrechen dessen, was wir als reell, real und realiter ansehen. Sie bricht ihre Fotografien auf in gleich große Stücke, um sie dann wieder zusammenzufügen. Das bewusst zerbrochene Bild wird wieder heil. Die Nähte erscheinen als Sollbruchstellen der Realität.
Sie hat für ihre Kunst gelernt zu nähen und begann auf einer alten, verstaubten, irgendwo abgestellten Maschine und mit dem Ratschlag einer Freundin, dass man Papier nicht nähen könne. Sie wagte es dennoch. Sie zeigt in ihrem Werk, dass Bilder, die wir sehen oder denen wir im Kopf, im Denken folgen, sich aus einzelnen Details, Erinnerungen, Emotionen immer wieder neu zusammensetzen, doch letztendlich das ergeben, was wir als großen Überblick werten. Schaut man sich etwa das Foto eines farbenprächtigen Wolkenspiels am abendlichen Firmament an, so erkennt man die Wolken, die Kondensstreifen, das Abendrot. Ein einzelner Ausschnitt aus dem Foto mag die Phantasie eröffnen, ob es ein heraufziehendes Unwetter oder überhaupt der Abendhimmel sei. Erst in der Zusammenfügung und in dem zusammengenähten Werk gewinnt man wieder den allumfassenden Blick. Darin liegt die Magie von Michaux.
Doch Michaux geht noch weiter. Sie schafft ihre eigene Realität. Dazu konstruiert sie kleine Dioramen, in denen sie alltägliche Szenen mit kleinen Modellbau-Figuren nachstellt, dann fotografiert, dabei eine sogenannte Tilt-Shift-Technik verwendet, die den Fotos eine überhöhte Künstlichkeit geben soll, in der Arbeit von Anne Michaux jedoch die Grenzen zwischen künstlicher und realer Welt verschwimmen lässt. Manche dieser Dioramen wirken wie eine futuristische Utopie an, wie ein Bild gewordener Science-Fiction-Roman. Übersteigern so das, was wir als „echt“ anerkennen möchten.
Es geht ihr um die Fragmentierung der Realität und ihrer wahrhaften Wiederzusammenführung. Nicht um eine neuerliche, willkürliche Zusammenstellung, in dem sie die einzelnen Teile frei und zufällig zusammenfügt, um eine neue Wirklichkeit zu schaffen: „Das ist mir zu zufällig, zu ‚random’“, erklärt Michaux. Es ist das Zerschneiden, das Aufspalten der Objektivität. Wenn Michaux auch die Wirklichkeit dekonstruiert, so geht es ihr doch nicht um deren Entlarvung, sondern um den Blick auf die einzelnen Details, die nicht zufällig wieder zusammengewürfelt werden, sondern geplant in ihre Ordnung treten. So tritt die Subjektivität der geglaubten Objektivität zu Tage.
Da ist auch ihre eigene Lebenswirklichkeit, ihre Biografie, die sie über einige Stationen aus ihrer luxemburgischen Heimat in die deutsche Hauptstadt führte, an die Nahtstelle zwischen Ost und West führte. Luxemburg ist ein Detail, das sich in das Gesamtheit fügt und das ihr wichtig ist. Denn Erinnerungen an ihre Heimat wecken bei ihr Verve und Leidenschaft, Furor und Zorn, aber auch liebevolles Andenken. Ihre Schilderungen ihrer Jugend im Großherzogtum geben eben jenes Abbild einer heilen Welt, die sie für sich, für ihr eigenes Leben und ihre gelebte Biografie fragmentierte und ebenfalls neu zusammensetzte, vernähte und verwebte zu eben jenem Menschen, der heute Kunst schafft. Die Jugend in Luxemburg ist ein Detail, das sie heute nicht an eine zufällige Stelle verschiebt, vielmehr genau dort den Raum gibt, wo die Jugend hingehört. Denn eigentlich könnte alles ganz anders sein, ist es aber nicht. Es muss nur zusammengesetzt sein. Entsprechend der gelebten und gesehenen Realität. Mit allen Bruch- und Nahtstellen.