„Simpel“ und „uneuropäisch“ hatte Staatsminister Jean-Claude Juncker (CSV) die deutsche Ablehnung seines E-Bond-Vorschlages genannt. Er war sauer. Die Deutschen danach auch. Seither wird der vorher in Deutschland hochverehrte und heißgeliebte Juncker in der deutschen Politikgemeinschaft mit anderen Augen gesehen. Bei den konservativen Schwesterparteien, wo man den Luxemburgern einen Premier dieses Formats neidete, es bislang als Ungerechtigkeit empfand, dass sich die Herrschaft des charismatischen Juncker auf das kleine Großherzogtum beschränkte, findet man nun, der Luxemburger solle weniger große Töne spucken. Er sei beleidigt und gekränkt, schrieb manche deutsche Zeitung, auf deren Seiten sich dieser Tage die Nachrufe auf das politische Wirken Junckers multiplizierten. Dabei hatte gerade er die deutschen Medien in den vergangenen Jahren beherrscht, wie kein anderer. Nun aber, erzählt dort Außenminister Jean Asselborn (LSAP) im Interview, die Themen, die Juncker beim EU-Gipfel pushen wollte, stünden nicht auf der Tagesordnung. Und erhält tags darauf das Bundesverdienstkreuz.
Seit Frankreich Junckers Promotion zum ersten ständigen EU-Ratsvorsitzenden verhindert hat, macht der Luxemburger Staatsminister aus seiner Feindschaft zum französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy kein Geheimnis. Eher kokettiert er damit, macht sich immer öfter, auch öffentlich, über ihn und die Grande Nation lustig, zuletzt vor Luxemburger Publikum bei der Ordensverleihung der Fondation du mérite européen Ende November. Doch dass sich Juncker zu solchen Frontalangriffen auf Deutschland hinreißen lässt, ist eher neu. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Vorschläge, die Juncker gemeinsam mit dem italienischen Finanzminister Giulio Tremonti zur Einführung kollektiver EU-Staatsanleihen gemacht hatte, ohne das geringste Zögern abgelehnt und sich einer Diskussion darüber verweigert. An ihrer Seite stand Nicolas Sarkozy, der zur Gipfelvorbereitung nach Deutschland gereist war. Er zeigte sich mit Merkel solidarisch, lehnte die Idee ebenfalls ab.
Weil der aktuelle Schutzschirm für insolvente Euro-Staaten nur bis 2013 genehmigt ist, hatten Juncker und Tremonti als dauerhafte Lösung der europäischen Schuldenkrise die Einführung von E-Bonds gefordert. Diese gemeinsamen europäischen Anleihen würden ihrer Vorstellung nach von einer europäischen Schulden-agentur ausgegeben und verwaltet werden, die die Nachfolge der bis 2013 begrenzten European financial stability facility (EFSF) antreten würde. Bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU und jeweils ihrer Mitgliedstaaten könnten mittelfristig über E-Bonds finanziert werden. Dadurch könnten alle EU-Länder zum gleichen Zinssatz Kredit aufnehmen und die zinstreibende Spekulation auf den Anleihen einzelner Länder, wie Griechenland oder Irland, wäre unterbunden. Ein großer liquider Markt würde entstehen, vergleichbar mit dem Markt für amerikanische oder japanische Anleihen; auch das würde zur Beruhigung der nervösen Investoren beitragen. Staaten, die über diesen Prozentsatz hinaus Schulden aufnehmen wollen, sollten das wiederum in Form nationaler Anleihen machen, der darauf zu zahlende Zinssatz würde die jeweilige nationale Haushaltslage und Solvenz widerspiegeln. Juncker und Tremonti hatten sogar eine Lösung parat, wie man die Investoren zur Kasse bitten könnte, falls ein Land Schwierigkeiten haben werde, den nationalen Teil seiner Schulden zu begleichen: Gegen einen Abschlag könnten diese in E-Bonds umgewandelt werden.
Ganz neu ist das alles nicht. Die Idee, europäische Anleihen auszugeben, gab es schon vor Jahrzehnten. Damals sollten sie der Finanzierung von gro-ßen EU-Infrastrukturprojekten dienen. Eine Aufgabe, die heute der Europäischen Investitionsbank zufällt. Der französische EU-Kommissionspräsident Jacques Delors wollte den EU-Haushalt über den Weg euro-päischer Anleihen finanzieren, die Mitgliedsländer waren dagegen. Als die EU-Länder im Zuge der Wirtschaftskrise nach Mitteln zur Finanzierung der Konjunkturprogramme suchten, kam die Idee der gemeinsamen Anleihen wieder auf. Und als im Frühling nach einer Lösung für die Griechenlandkrise gesucht wurde, gab es Vorschläge, die Hilfe an insolvenzgefährdete Länder über den Weg gemeinsamer Anleihen zu finanzieren – was über den europäischen Rettungsschirm EFSF in gewisser Art gemacht wird.
Das System, das Juncker und Tremonti vergangene Woche in ihrem gemeinsamen Beitrag in der Financial Times vorstellten, haben sie vom Brüsseler Bruegel-Thinktank abgekupfert, an dessen Spitze der frühere italienische EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti steht. Die Bruegel-Ökonomen sprechen von blauen und roten Bonds. Blau sind die gemeinsamen Anleihen (bis zu 60 Prozent des BIP) und rot, alles was die Staaten darüber hinausgehend auf eigene Faust an Schulden aufnehmen. Weil der blaue Markt so groß und flüssig werde, stünden die Chancen nicht schlecht, dass die Zinsen unter den aktuell durchschnittlich von den EU-Ländern gezahlten Zinssatz fallen werde, meinen Experten. Rot sollen die roten Bonds deshalb sein, weil es dort keine Garantie gegen Umschuldung und Abschläge gibt. Entsprechend würden sich auch die zu zahlenden Zinspegel im roten Bereich bewegen.
Genau diesen Teil der Vorschläge, so der Vorwurf Junckers Richtung Berlin, hätten die Deutschen nicht gelesen. Denn Merkel lehnte jede Diskussion daüber mit dem Argument ab, gemeinsame Anleihen würden den Druck auf die jeweiligen Länder verringern, ihre Haushalte zu sanieren. Wer bei der Schuldenaufnahme nicht durch hohe Zinsen gestraft wird, hat keinen Anreiz, die Haushaltsdisziplin zu verbessern, so die Logik. Weil die Deutschen – von den Arbeitnehmern hin bis zur Bundesregierung – in den vergangenen Jahren so diszipliniert waren, sich mit Lohnforderungen zurückgehalten haben, sich eine Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben haben, zahlt Deutschland unter den EU-Ländern die niedrigsten Zinsen. Würde der Zinssatz bei der gemeinsamen Schuldenaufnahme auf EU-Durchschnitt steigen, müsste Deutschland höhere Zinsen zahlen als jetzt, so die Angst. Deutschland würde dadurch mehr Geld an die anderen EU-Länder transferieren, die EU zur Transfer-Union zwischen starken und schwachen Ländern. Dazu sagte die Kanzlerin entschieden „Nein“.
Dass auch Sarkozy „Non“ sagte, mag eher verwundern. Denn noch vor wenigen Monaten machte sich die französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde bei den Exportweltmeistern unbeliebt, indem sie sagte, die deutsche Handelsüberschüsse würden auf Kosten der anderen Euro- und EU-Länder erzielt. Deutschland müsse die Binnennachfrage ankurbeln. Ohnehin hatte Frankreich als Hauptbezieher der EU-Agrarsubventionen bislang kein Problem mit dem Prinzip einer Transferunion. Sollte das erstklassige Rating der französischen Staatsanleihen wirklich ins Wanken geraten, wie in den vergangenen Monaten immer mal wieder das Gerücht ging, und Paris höhere Zinsen zahlen müssen, um seine Anleihen loszuwerden, dürften E-Bonds à la Juncker und Tremonti ganz schnell attraktiv erscheinen.
Dass sich Sarkozy mit Merkel dennoch solidarisch zeigte, liegt also wahrscheinlich eher daran, dass Berlin und Paris, wenn es darum geht, in der EU die Marschroute zu bestimmen, das Heft nicht aus der Hand geben möchten. Wenn sie zusammenhalten, können die anderen EU-Länder gegen deutsch-französische Positionen nicht viel ausrichten. Warum sonst sollten Juncker und Tremonti sich aufs Schreiben von Zeitungsbeiträgen verlegen, um in der Öffentlichkeit Druck aufzubauen. Wahrscheinlich weil sie sonst am Verhandlungstisch in Brüssel nicht zu Wort kommen, und das die einzige Art ist, sich Gehör zu verschaffen. Doch diese Art, Europapolitik zu machen, nach der die Großen entscheiden wollen, also Deutschand und Frankreich, und die Kleinen – alle anderen – parieren sollen, dürfte spätestens seit dem gemeinsamen Auftritt von Merkel und Sarkozy in Deauville nicht nur Juncker gegen den Strich gehen.
Während in Luxemburg die Finanzminister aller EU-Länder im Oktober über eine Reform des Stabilitätspakts berieten, traten Merkel und Sarkozy in dem französischen Badeort vor die Kameras und gaben ihre Einigung über genau diese Reform bekannt. Sarkozy hatte Merkel den automatischen Stimmrechtsentzug für Defizitsünder ausgeredet, dafür sollten die Investoren in Staatsanleihen insolventer EU-Länder Abschläge hinnehmen müssen. Daraufhin dürfte sich mehr als ein Finanzminister gefragt haben, warum er/sie eigentlich nach Luxemburg gereist war, um zu diskutieren. Zumal sich die meisten Beobachter einig sind, dass Merkel mit ihrem Ruf nach Abschlägen die Irland-Krise nur beschleunigt hat und die darauffolgende Flucht der Investoren mittlerweile den „Merkel-Crash“ nennen.
So weiß Juncker, wenn er gegen Merkel in die Offensive geht, viele andere Kleine hinter sich, nicht nur Tremonti. Juncker, der es als Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich zu europolitischem Ruhm gebracht hatte, wechselt die Rolle. Wenn zwischen Paris und Berlin nicht mehr vermittelt werden muss, ist Ruhm künftig nur noch als Kämpfer gegen die deutsch-französische Vormachtstellung zu haben. So wird er derzeit auch als Held der Unterdrückten gefeiert, als der einzige, der sich traut, Merkel die Stirn zu bieten.
Nach der fraglichen Irlandrettung fällt es ihm leicht, Zustimmung gegen die deutsche Position zu sammeln. Denn immer mehr Beobachter sind überzeugt, dass sich die Lage auf den europäischen Anleihemärkten durch Einzelaktionen wie in Griechenland und Irland nicht entspannen wird. Die Zweifel daran, dass Griechenland und Irland die wirtschaftliche Sanierung gelingt, während sie im Gegenzug für hochverzinste Hilfsgelder drakonische Sparprogramme durchziehen müssen, werden immer lauter. Zumal die direkte Wirkung ausbleibt: 85 Milliarden Euro reichten nicht aus, um die Zinsen auf irischen Staatsanleihen merklich zu senken. Dazu musste erst Jean-Claude Trichet, Chef der Euro-päischen Zentralbank (EZB), ins Portemonnaie greifen und wiederum europäische Anleihen aufkaufen. Für 72 Milliarden Euro soll die EZB seit dem Frühling Papiere dieser Art gekauft haben. Sollte es zur Umschuldung kommen, müsste die EZB große Verluste hinnehmen. In Frankfurt werde über eine Kapitalerhöhung nachgedacht, berichteten deutsche Medien.
Dass das nicht lange so weitergehen kann, der Meinung sind beispielsweise die SPD-Spitzenpolitiker Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, wie sie diese Woche ebenfalls in der FT schrieben. Deswegen finden auch sie Gefallen an der E-Bonds-Idee. Liberale, Grüne und Sozialdemokraten im Europaparlament sind ebenfalls dafür, Guy Verhofstadt und Daniel Cohn-Bendit sagten dort voraus, sie würden viel zu spät eingeführt werden. George Soros, der einst mit seinen Wetten gegen das damals überbewertete britische Pfund fast das Europäische Währungssystem zum Einsturz brachte, meint, nur E-Bonds könnten den Euro noch retten. So weiß Juncker viele Mitstreiter auf seiner Seite, wenn er sagt, die Idee sei nicht so dumm, wie sie aussehe; vor Jahren habe man seinen Vorschlage über das „europäische Semester“ zur Haushaltsüberwachung abgelehnt, das 2011 erstmals angewendet wird. Denn auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, mit dem Juncker seine Vorschläge anlässlich seines Berlin-Besuchs vor zwei Wochen diskutierte, ist nicht ganz so abgeneigt, wie seine Kanzlerin. Er fand es wohl, angesichts der unzureichenden Haushaltskoordination in der EU, dafür nur zu früh. So dass die Chancen dafür nicht ganz so schlecht stehen, dass sich Juncker selbst, wie er es liebt, als früher Befürworter der Idee zitieren kann.