Volksbefragungen gehen in der Regel anders aus, als von ihren Initiatoren geplant. Deshalb wird derzeit lieber nicht gefeiert, dass vor 80 Jahren eine hauchdünne Mehrheit der Wahlberechtigten die parlamentarische Demokratie gegen die große Mehrheit von Regierung, Parlament, Presse, Kirche und Unternehmerverbänden verteidigte. Am 6. Juni 1937 wurde die sechs Wochen zuvor vom Parlament mit großer Mehrheit verabschiedete Loi pour la défense de l’ordre politique et social in einem Referendum wider Erwarten verworfen.
Bei der Hinterlegung des seit zwei oder drei Jahren geplanten Maulkorbgesetzes hatte die Regierung im Begleitschreiben vom 3. Januar 1935 den Zweck des Gesetzes erklärt: „Le Conseil d’État se trouve saisi d’un projet de loi qui a pour but de donner au Gouvernement les armes nécessaires pour combattre les effets, de jour en jour, plus désastreux de la crise économique mondiale.“ Wobei sie mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise nicht die Arbeitslosigkeit, die Lohnsenkungen und das Elend meinte, sondern den wachsende Widerstand gegen die im Titel des Gesetzentwurfs erwähnte politische und soziale Ordnung.
Seit dem Wall-Street-Crash 1929 war die Stahlproduktion in Luxemburg um ein Drittel gefallen, die Stahlindustrie hatte ein Viertel der Luxemburger und zwei Drittel der eingewanderten Arbeiter entlassen. Die Folge war, wie in den Nachbarländern, eine politische Radikalisierung der Arbeiterklasse: 1934 war mit Zénon Bernard der erste Kommunist ins Parlament gewählt worden, eine Parlamentsmehrheit hatte ihm aber sein Mandat wieder entzogen. In mehreren Arbeiterstädten waren Kommunisten in die Gemeinderäte gewählt worden. 1936 demonstrierten Zehntausende, damit die Unternehmer die Gewerkschaften als Verhandlungspartner für kollektive Lohnvereinbarungen akzeptierten. Bei einer Urabstimmung stimmten 99 Prozent der Bergarbeiter für einen Streik. Die Sympathien für die in Frankreich gewählte Volksfront-Regierung und für eine Linkseinheit gegen die 1933 in Deutschland an die Macht gekommenen Nazis nahmen zu.
Die besitzenden und herrschenden Kreise, denen die Belagerung des Parlaments von 1919 und die Betriebsbesetzungen von 1921 noch in frischer Erinnerung waren, hielten die Zeit für gekommen, um ihre politische und soziale Ordnung zu verteidigen: Die Regierung aus der Rechtspartei unter Joseph Bech und den Liberalen, deren Präsident Arbed-Direktor Alphonse Nickels war, brachte ihren Gesetzentwurf zur Abstimmung. Das Gesetz sollte die Auflösung und das Verbot der Kommunistischen Partei als radikalsten Teil der Arbeiterbewegung verfügen. Doch angesichts des wachsenden Widerstands kommunistischer und sozialistischer Arbeiter, liberaler Angestellter und Beamter, war die auf den weitverbreiteten Antikommunismus spekulierende Regierung schließlich siegesgewiss zu einem Referendum bereit – das sie dann verlor.
Achtzig Jahre später stellen sich ähnliche Probleme. Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 hat die Legitimation von Neoliberalismus und Globalisierung erschüttert, den seit den Achtzigerjahren dominierenden Glauben, dass die Entfesselung der Märkte und der Konkurrenz, das Zurückdrängen des Staats und vor allem des Sozialstaats mit Privatisierungen, Deregulierungen und Austerität zu wachsendem Wohlstand führten und sowieso alternativlos seien. Inzwischen wächst in vielen Ländern die Wählerrevolte gegen diese politische und soziale Ordnung. Da die Sozialdemokraten vor ihr kapituliert hatten und die Kommunisten unter den Trümmern der Berliner Mauer begraben wurden, findet der Widerstand derzeit vor allem einen rechten Ausdruck, mit Nationalismus und Protektionismus.
Auch wenn derzeit die politische und soziale Ordnung hierzulande nicht bedroht scheint, kann der Zweifel der besitzlosen Klassen an Neoliberalismus und Globalisierung bei einer erneuten wirtschaftlichen Krise in offene Feindschaft umschlagen. Der knappe Ausgang des Referendums von 2005 und das Desaster des Referendums von 2015 zeigen, dass es in der Bevölkerung stillschweigend Ansichten und Überzeugungen gibt, die von der lautstarken Hegemonie des wirtschaftsliberalen, proeuropäischen und weltoffenen Diskurses in den Parteien und Medien übertönt werden.
So drängt sich erneut die Notwendigkeit auf, ein Arsenal zur Verteidigung der Besitz- und Herrschaftsverhältnisse zu schaffen. Im Vergleich zum grobschlächtigen Maulkorbgesetz von 1937 scheinen diese Techniken verfeinert, vor allem die sanften Herrschaftstechniken werden derzeit ausgebaut, mit denen der Weg in eine Praxis geebnet wird, die Colin Crouch schon im Jahr 2000 „Post-democracy“ nannte. Drei Jahre nach Ausbruch der großen Krise begann das Parlament 2011, Forschungsarbeiten der Universität auf dem Gebiet der Gouvernance zu finanzieren, einer Technik zur Kontrolle und Beeinflussung der als Politikkonsumenten angesehenen Wähler. Marktforschungsfirmen messen regelmäßig in Meinungsumfragen das „Vertrauen in die Politik“, das heißt die Akzeptanz der bestehenden Verhältnisse durch die subalternen Klassen.
Die DP/LSAP/Grünen-Koalition machte von Anfang an besondere Anstrengungen, um die politische und soziale Ordnung mit sanften Techniken zu verteidigen. Dazu beschloss sie die Schaffung eines Zentrums für politische Bildung, das zusammen mit dem neuen Werteunterricht in den Schulen aktiv liberale Werte verbreiten und eine Radikalisierung verhindern soll, um ein Weltbild mit einem historisch unüberwindbaren Horizont von Marktwirtschaft, Menschenrechten und Mülltrennung zu verbreiten. Mit der technologischen Verbrämung wirtschaftspolitischer Ziele soll auch der vom Wirtschaftsministerium und der Handelskammer gekaufte Rifkin-Bericht Demokratie durch Akzeptanz ersetzen.
Wenn das Maulkorbgesetz von 1937 die Besitzverhältnisse des Industriekapitals verteidigen sollte, dann ist seine Analogie in Zeiten des Finanzkapitals die Loi du 12 juillet 2014 relative à la coordination et à la gouvernance des finances publiques. Dieses Gesetz nimmt dem Parlament die Hoheit über die Staatsfinanzen weg, weil die Abgeordneten im Verdacht stehen, zu nachsichtig gegenüber ihren Wählern werden zu können. Um die europaweite Austeritätspolitik unabhängig von der Konjunktur zu institutionalisieren, führte das Gesetz eine Defizitbremse, ein mittelfristiges Haushaltsziel und einen Korrekturautomatismus ein, wie sie im Stabilitätspakt von 2012 vorgesehen sind, und es schafft entsprechend dem Six-Pack von 2011 einen mittelfristigen Finanzrahmen unter der Aufsicht eines Conseil national des finances publiques.
Reicht diese Teilentmachtung des Parlaments nicht mehr aus und ist eine Regierung nicht mehr der eigenen Mehrheit sicher, um ein unpopuläres Gesetz verabschieden zu lassen, sieht die große Verfassungsrevision in Artikel 91-1 vor, dass die Regierung, wie der berüchtigte Artikel 49-3 der französischen Verfassung, die Vertrauensfrage an die Verabschiedung eines Gesetzes knüpfen kann. Die Abgeordneten, die gegen den Gesetzentwurf stimmen wollen, riskieren dann Neuwahlen und den Verlust ihrer liebgewonnenen Mandate.
Inzwischen gibt es aber auch zahlreiche neue Vorkehrungen für den Fall, dass die politische und soziale Ordnung nicht mehr bloß mit den von Experten dekretierten ökonomischen Sachzwängen und sanften Gouvernance-Techniken verteidigt werden kann. Für den Fall, dass ein zunehmend autoritärer Liberalismus gesetzliche Waffen braucht, wie die Regierung Bech 1935 im Begleitschrieben zum Maulkorbgesetz schrieb. Nur dass diese gesetzlichen Waffen nicht mehr durch den Kampf gegen den Kommunismus, wie 1937, sondern heute durch den Kampf gegen den Terrorismus gerechtfertigt werden.
Als eine der ersten Amtshandlungen hatte die Regierung eine Reform des Nachrichtendienstes auf den Instanzenweg gebracht. Das im Juni vergangenen Jahres verabschiedete Gesetz sollte nach den Skandalen von 2013 die Kontrolle über den Spëtzeldéngscht verschärfen, aber es stockte vor allem seine personellen und finanziellen Mittel auf und legalisierte den Einsatz neuer Überwachungstechniken.
Vor zwei Monaten ratifizierte das Parlament ein schon 2012 unterzeichnetes Abkommen mit den USA „aux fins du renforcement de la coopération en matière de prévention et de lutte contre le crime grave“. Es verschärft die Überwachung sämtlicher Flugreisenden unter dem Vorwand des Kampfs gegen die Schwerkriminalität, aber gemeint sind sämtliche Straftaten, die mit bis zu einem Jahr Haft oder mehr bestraft werden. Danach werden die Fingerabdrücke und DNA-Profile von Reisenden gesammelt und automatisch ausgetauscht sowie im Verdachtsfall alle weiteren personenbezogenen Daten als Amtshilfe nachgereicht.
Schon Ende 2015 verabschiedete das Parlament die Loi portant mise en œuvre de certaines dispositions de la Résolution 2178 (2014) du Conseil de sécurité des Nationas Unies et portant modification du Code pénal et du Code d’instruction criminelle. Das Gesetz führt eine archaische Strafe wieder ein, die sonst als Verletzung der Menschenrechte von Ostblockdissidenten kritisiert wurde: ein Ausreiseverbot für Gotteskrieger. Die Ironie der Geschichte will es, dass es eine Neuauflage ist der 1937 erlassenen Loi destinée à empêcher la participation d’étrangers à la guerre civile d’Espagne.
Noch nicht gestimmt ist der Gesetzentwurf „portant modification du Code d’instruction criminelle et de la loi modifiée du 30 mai 2005 concernant la protection de la vie privée dans le secteur des communications électroniques“. Das Gesetz soll nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in einem neuen Anlauf die weiträumige Überwachung und Auswertung von Handy- und Computerdaten verschärfen. Die soll erlaubt werden, wenn der Verdacht auf eine von fast drei Dutzend verschiedene Straftaten vorliegt.
Für den Fall, dass alle Stricke reißen und die politische und soziale Ordnung nicht mehr mit den verschärften Mitteln der Strafprozessordnung verteidigt werden kann, hat das Parlament inzwischen in erster Lesung Artikel 32.4 der Verfassung abgeändert. Er soll der Regierung nun auch im Fall nationaler Krisen Vollmachten erteilen, um sich schlagartig über die Gewaltentrennung und bestehende Gesetze hinwegzusetzen. Die Regierung darf selbst entscheiden, wann die nationale Sicherheit bedroht ist. In einem ersten Entwurf war sogar vorgesehen, den Notstand im Fall einer Störung der öffentlichen Ordnung erklären zu können. Diesen Tatbestand hatte die CSV beispielweise mit dem Generalstreik vom Oktober 1973 erfüllt gesehen.
Sämtliche dieser gesetzlichen Waffen zur Verteidigung der politischen und sozialen Ordnung werden mit einer terroristischen Bedrohung gerechtfertigt. Dabei ist stets die durchaus reale Bedrohung durch irgendwelche Gotteskrieger gemeint. Aber alle Bestimmungen lassen sich im Bedarfsfall auch auf andere schnell als Terroristen dargestellte Gegner der politischen und sozialen Ordnung anwenden.