Herrlech Paschtéiten. Jims linke Hand greift zum Glas vor ihm. Er führt es zu seinem Mund. Und hebt den unteren Teil etwas an. Die goldene Flüssigkeit läuft in seinen Rachen. Der Kopf bleibt völlig starr. Dann stellt er das Glas wieder hin, dreht sich mit dem Oberkörper nach links, den rechten Ellenbogen auf dem Tresen. Er hebt den Kopf: ein von Falten gezeichnetes Gesicht, zwei klare blaue Augen. Jim kommt seit 40 Jahren in die Rue Joseph Junck, hat die Straße immer gemocht und das Café du Globe ganz besonders. Früher war hier noch mehr los, es gab noch mehr Clubs „mat Meedercher“, aber auch mehr „komesch Leit“. Und es gab noch diesen Metzger. „De Krack“, sagt ein Mann mit breiten Schultern hinter der Theke, der gerade ein Glas mit einem Handtuch abtrocknet und das Gespräch verfolgt. Er heißt Ricardo und ist der 19-jährige Sohn des Cafébesitzers. Schicht von sieben Uhr morgens bis mittags um 15 Uhr. „Dat misst de dach nach wëssen, Jim.“ Jim nickt mit dem Kopf. „Herrlech Paschtéiten.“ Als er noch nicht im Ruhestand war, musste Jim für seine Kollegen „bei der Bunn“ manchmal Bestellungen für „d ganz Equipe“ abholen. „Mä dunn huet de Krack jo faillite gemach. Kee wousst wisou.“ Jim dreht sich wieder zum Tresen und nimmt noch einen Schluck. In einer Ecke steht ein Flachbildfernseher. Auf Prosieben läuft gerade die Serie How I met your mother, und der Song All by myself von Eric Carmen wird gespielt. Beim Refrain summt Jim leise mit.
Dort, wo früher die Metzgerei Krack war, ist jetzt ein vietnamesisches Schnellrestaurant. Es ist eines von drei asiatischen Restaurants in der Rue Joseph Junck, und eines von rund einem Dutzend Restaurants in der Straße insgesamt. Wie viele Gaststätten sich in der nur rund 200 Meter langen Rue Joseph Junck gerade genau befinden, kann niemand mit Gewissheit sagen. Manche sehen geschlossen aus, sind jedoch geöffnet. Andere sind geschlossen, obwohl sie laut Angaben an der Eingangstür eigentlich geöffnet sein müssten. Und noch andere kündigen seit Monaten eine Eröffnung an, ohne dass etwas geschieht.
Gentrifizierzung Die Rue Joseph Junck gleich gegenüber dem Bahnhof gilt als Ort, den man nicht betreten will, wenn man ihn nicht betreten muss: Prostitution, Schlägereien, Obdachlose, Drogen, Tote. All das Elend, das bürgerliche Gesellschaften erdulden, aber nicht sehen möchten. Doch tatsächlich befindet sich die Straße in einem Umbruch – einem Gentrifizierungsprozess. Langsam, aber unaufhaltsam bereitet sich von der Bahnhofseite das postmoderne Luxemburg aus. Dort, wo noch im vergangenen Jahrhundert die Galerie Kons stand, hat vor zwei Jahren die multinationale ING Bank ihren Sitz aufgeschlagen. Durchsichtige Fenster, gesäuberter Bürgersteig, Anzugträger. Wer sich weiter westwärts bewegt, trifft auf ein Schönheitsinstitut, das es sonst nur noch auf den Champs-Elysées gibt, ein Sushi-Restaurant, ein Mittelkasse-Hotel, auf geübte Jogger in der Mittagsstunde, den Bioladen Naturalia, einen Monoprix, einen Zeitungskiosk, zwei Fitnessstudios und in etwa der Mitte der Straße auf ein unterirdisches Parkhaus. Ab dort beginnt die andere, die frühere Rue Joseph Junck. Der Bürgerschreck mit Nachtclubs, Diskotheken, afrikanischen Gewürzläden, Zwei-Sterne-Hotels und am Ende der Straße: einem Money Transfer Shop.
„Rue Joseph Juncky“ steht auf dem Schild gegenüber dem Money Transfer. Irgendjemand hat vor Jahren ein „Y“ mit einem schwarzen Edding-Stift hinzugeschrieben. Niemand scheint sich seither verantwortlich zu fühlen, es zu entfernen. Paulo kann darüber nur lachen. „Aber natürlich ist das die Junky-Straße, wo glaubst Du denn sonst, wo Du bist“, sagt Paulo und gibt seinem Kollegen Luís einen leichten Schubser. Paulo lebt in Differdingen und stammt aus dem Senegal, Luís lebt in Gasperich und stammt aus Guinea-Bissau. Beide sind ungefähr 2007 oder 2008 nach Luxemburg gekommen, sagt Paulo, der als einziger spricht. Sie arbeiten für eine Baufirma, den Namen des Unternehmens will er nicht nennen. Sie treffen sich hier an der Ecke zum Eingang in die Rue Joseph Junck, um „ihre Leute“ zu sehen. „Wo soll ich denn sonst hingehen“, so Paulo. Das Schlimmste an Luxemburg: die hohen Mieten und das Wetter. Das Beste: die guten Löhne. Er habe jetzt wieder genug Geld zusammen, um nach Dakar zu seiner Familie zu fliegen. Im Dezember ist es soweit, über Lissabon geht es dann für kurze Zeit in seine Heimat.
Patriarch Nur wenige Schritte weiter befindet sich das Barbarella: Die engste Diskothek in Luxemburg, wie manche sie nennen. Andere sagen, es sei nicht klar, ob das Barbarella noch Disko oder schon Puff ist. Über dem Barbarella befindet sich das Hotel Zürich. Die Rezeption ist eine Scheibe zwischen der Bar und der Hoteltreppe. Wer Kommentare im Internet liest, erhält die klare Anweisung: „Vermeiden!“ An diesem Tag sind rund ein Duzend Gäste im Barbaralla – vorwiegend Senioren, aber auch zwei Frauen. An der Wand hängt ein Schild: „La maison ne fait pas de crédit.“ Daneben: ein Bild des Großherzogs. Die Bardame ist eine dünne, großgewachsene Frau mit blondgefärbten Haaren, etwas zu dick aufgetragener Schminke und osteuropäischem Akzent. Sie sieht tatsächlich ein wenig aus wie Barbarella, beziehungsweise Jane Fonda aus dem gleichnamigen Film. Die Pornokomödie aus den 1960ern gilt heute als Kult, für Feministen verkörpert der Streifen jedoch das Übel der toxischen Männlichkeit in einer patriarchischen Welt. Ein Mann, geschätzt Anfang 40, enganliegendes Shirt und auffällige Kette um den Hals, läuft zwischen der Tischbank und der Bar hin und her, als gehöre ihm der Laden. Er behauptet, dass der Verein Borussia Dortmund heute verlieren und seinen Trainer entlassen wird, nennt einen älteren Herrn, der widerspricht, einen „Idioten“ und schenkt sich dann eigenhändig hinter dem Tresen ein neues Bier ein. Dann stellt er sich breitbeinig vor eine bis dato stille Frau, die an der Tischbank sitzt. Er fordert sie auf, doch einmal zuzugreifen. Und zwar „kräftig“. Niemand spricht. Nur Stimmen der Fernsehkommentatoren sind zu hören. Dann gibt er der Frau einen Klaps auf den Hinterkopf, lockert seine Miene und drückt ein tiefes Grölen aus seiner Kehle. Alle anderen tun es ihm gleich, auch die Frau hebt ihre Mundwinkel und setzt zu einem Lächeln an.
Zwischen dem afrikanischen Restaurant Baobab und der Auberge de Reims befindet sich das Café la Tasquinha. Tasquinha heißt auf portugiesisch so viel wie kleine Bar, und der Name ist Programm. Die Kneipe hat gerade einmal Platz für vier Tische, einen Tresen, einen Flachbildfernseher, ein altes Röhrenradio – und ein Bild mit dem Konterfei des Großherzogs. Kartenzahlung ist nicht möglich. Die Bar gehört Armando. Vor vier Jahren hat er das Café von seinem Bruder übernommen, dieser führt mittlerweile das Café du Globe – Ricardo, der Barkeeper mit den breiten Schultern, ist sein Neffe. „Ich kenne hier 90 Prozent aller Gäste“, sagt Armando. „Des gens du coins“, die er als Freunde bezeichnen würde. Sie trinken morgens Kaffee, mittags Espresso und abends Superbock. Im Tasquinha ist immer etwas los. Seine Kinder sind nicht in Luxemburg geblieben und leben mittlerweile wieder in Portugal. Er jedoch will hierbleien. „Das ist mein Zuhause.“ Was er sich denn von der Politik erwarte, so die Frage an Armando. „Politik?“, sagt der kleingewachsene Mann und greift sich an den Hinterkopf. Er kenne den Minister „Franz“ sehr gut, seine Frau war mehrere Jahre Putzkraft beim Minister zuhause. Aber eigentlich sei alles gut. Allerdings würde er sich wünschen, dass jemand seine Tür repariert, damit sie wieder von selbst schließt. „Es zieht ständig.“
Brooklyn Gegenüber von Armandos Tasquinha ist der letzte wirkliche Nachtclub in der Rue Joseph Junck. Er trägt den unmissverständlichen Namen: Show Cabaret. Die Nacht beginnt dort um 15 Uhr. Das Interieur kann als klassisch bezeichnet werden: Bühne, Stange, Rotlicht. Gegen 18 Uhr ist jedoch erst ein Kunde anwesend. Und dieser lässt unmissverständlich wissen, dass ein Journalist die letzte Person ist, die er hier sehen will – „abgesehen von meiner Frau“. Das dazugehörige Café sieht dagegen fast schon urban und hip aus. Große Retro-Glühbirnen hängen von der Decke, schicke Sofas und an der Wand: alle Porträts sämtlicher Großherzöge seit 1890.
Am Ende der Rue Joseph Junck, gleich gegenüber des ING-Sitzes, hat vor kurzem das Café Bei der Gare eröffnet. Es ist das Nachfolgelokal des früheren Café Rex. Wer das Café betritt, fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Rote Backsteine, rote Telefonkabine und angestaubte Stehlampe: Es erinnert ein wenig an das Central Perk aus der Sitcom Friends aus den 1990er-Jahren. Oder ganz einfach an eine beliebige Bar in Brooklyn. Dazu jammen sechs Musiker auf der Bühne: ein Schlagzeuger, zwei Gitarristen, ein Bassist, ein Perkussionist und eine Frau an der Trompete, die gerade zu einem Solo ansetzt.
Als der Drummer mit beiden Armen zum finalen Schlag ausholt, klatscht ein Mann in Lederjacke vor der Bühne als Erster: Stephan „Kid“ Colling. Colling ist selbst Bluesmusiker, will an diesem Abend aber nicht auf die Bühne steigen. Er organsiert seit September das musikalische Programm im Café für Paula, die Besitzerin. Colling hat die Musiker ins Café gebracht, die bis vor kurzem noch im gerade erst geschlossenen Liquid im Grund spielten. „Das hier ist die beste Ecke in Luxemburg“, sagt Colling, nachdem die Musiker zum nächsten Song angesetzt haben. Nirgendwo sonst sei Luxemburg so international und kosmopolitisch. „Hier hat man doch das Gefühl, in einer Großstadt zu leben“, sagt Colling und zeigt mit seiner Hand durch die Fenster auf die Rue Joseph Junck. Wo treffe man denn sonst noch Yuppies, Ökos, Junkies und einfache Bürger auf so engem Raum. Gerade dafür würden doch so viele Luxemburger nach Berlin, London oder Amsterdam ziehen. „Keine Ahnung, warum mir das nicht früher aufgefallen ist“, sagt Colling und klatscht erneut als einer der Ersten in die Hände, als der Song vorbei ist. Es ist eine Anlehnung an das Bonmot von Serge Tonnar und de Läb in ihrem Song Laksembörg City: „Maat d Aan op a spëtzt eemol är Oueren, well eng Stad gehéiert och de Fixer an den Houeren.“