Eine entfernte Kusine vertraute 1979 Régine Lejeune, Angestellte des damaligen Crédit Européen, 40 000 französische Franken an. Lejeune sollte diese für sie bei der Bank anlegen, die Bankangestellte hatte ihr hohe Zinsen versprochen. Anstatt das Geld anzulegen, steckte sie es in die eigene Tasche. So begann die Bankerin ihre zweite Karriere als Betrügerin, der sie 2004 selbst ein Ende setzte, indem sie sich der Polizei stellte und gestand. 25 Jahre lang kassierte sie rund 16 Millionen Euro ein, zahlte über die Jahre wieder mehrere Millionen an ihre „Kunden“ zurück, so die Ermittler am Dienstag vor der 13. Kammer des Bezirksgerichts Luxemburg. Am Ende ihrer kriminellen Laufbahn stand ein Fehlbetrag von 7,7 Millionen Euro.
Das System der Betrügerin war so einfach wie genial. Sie führte eine Privatbank in der Bank. Ihre Kunden empfing sie meist in der Mittagspause in den Räumlichkeiten des Crédit Européen, später ING, vermittelte ihnen dadurch den falschen Eindruck, dass ihre Ersparnisse tatsächlich bei der Bank angelegt seien. Die Kunden brachten Bargeld, das sie entgegennahm und damit aus dem Raum ging, um es, in dem Glauben wähnten sich die Betrogenen, auf ein in ihrem Namen eröffnetes Konto einzuzahlen. Lejeune begab sich an die Schalter der Bank. Dort hob sie von ihrem eigenen Nummernkonto die gleiche Summe ab, wie sie ihr der Kunde ausgehändigt hatte, und zahlte sie sofort wieder auf ein zweites, eigenes Nummernkonto ein. Für die Einzahlung erhielt sie von der Bank eine Quittung, die sie, zurück bei ihren Kunden, aushändigte. Die ahnten nichts davon, dass das Konto nicht ihnen, sondern der Angestellten selbst gehörte.
Rund 90 Kunden betrog Régine Lejeune auf diese Art, versprach ihnen Zinserträge zwischen neun und fünfzehn Prozent, in jedem Fall mehr als der handelsübliche Zinsfuß. Ihr falsches Bankhaus hielt sie mit Unterlagen aus der richtigen Bank aufrecht. Auf den vorgedruckten Formularen von Crédit Européen und ING fälschte sie Kontenunterlagen. Falsche Kontoauszüge füllte sie meist mit einer Schreibmaschine der Bank aus, so die Ermittler.
Die Hochstaplerin musste sich nicht einmal besonders anstrengen, um die leeren Formulare zu stehlen. Sie bediente sich einfach an dem über lange Strecken ihrer Tätigkeit in der Tiefgarage gelagerten Material – vollzog so über die Jahre mit ihrer Schattenbank Logo- und Namensänderungen ihrer Arbeitgeber. Zudem hatte sie die Stempel einiger Kollegen entwendet, zum Beispiel solcher, die in Rente gingen und sie damit kaum vermissten, um ihre Fälschungen authentischer wirken zu lassen. Sie ahmte die Unterschriften der Kollegen nach, berichteten die Ermittler, hatte dazu eigens ein zur internen Kontrolle gedachtes Unterschriftenregister geklaut – wenn sie denn nicht mit Fantasienamen unterschrieb.
Ihren Kunden schärfte die Bankangestellte ein, sich ausschließlich an sie, niemals an eine andere Filiale oder andere Mitarbeiter der Bank zu wenden und niemals unangemeldet vorstellig zu werden. Weshalb sie einen Kunden, der darauf bestand, von seiner tüchtigen Bankerin der Firmenleitung vorgestellt zu werden und ob ihrer Verweigerung kündigte, seine Einlagen einschließlich der versprochenen Zinsen auszahlte. Sogar aus einem Intermezzo mit der belgischen Börsenaufsicht, die intervenierte, weil sie geklaute Inhaberaktien verkaufen wollte, die ein Kunde ihr anvertraut hatte, redete sie sich heraus. Der Vorfall blieb ohne Folgen.
Fragt sich, ob eine Frau allein, ohne jede Hilfe, einen solch umfangreichen Betrug organisieren und über solch einen langen Zeitraum aufrechterhalten konnte – und was sie dazu veranlasste. Régine Lejeune hat allein gehandelt, stellte der ermittelnde Kriminalkommissar am Dienstag fest, die Sonderkommission habe keine Hinweise auf Mittäter gefunden. Zwar schickte ihr ein Bekannter gegen Vermittlungsgebühren Kunden. Doch auch ihn betrog sie, weshalb das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt wurde.
Zwei psychiatrische Gutachten – eines vom Untersuchungsrichter angeordnet und eine Gegenexpertise – beschreiben eine von Minderwertigkeitskomplexen und zwanghaften Verhaltensstörungen geplagte Frau. Bereits als Jugendliche litt sie unter ihrem Übergewicht, war fresssüchtig und eifersüchtig auf ihren Bruder, dem die Eltern ihrer Meinung nach mehr Zuneigung und Anerkennung gaben als ihr. Weitere Zwänge kamen hinzu. Die Kaufsucht; die Polizei beschlagnahmte rund 200 Paar Schuhe, 100 Handtaschen, eine beeindruckende Anzahl an Regenschirmen. Sie fand Kleidung im Wert von insgesamt 250 000 Euro vor, meist unausgepackt und ungetragen.
Doch die Kaufsüchtige dachte nicht nur an sich selbst. Sie machte viele Geschenke. Sie fand sich selbst „eine Null“, kam sich unbedeutend vor. Das veruntreute Geld gab ihr die Möglichkeit, eine neue Frau zu erfinden, eine großzügige, angesehene, geliebte Régine Lejeune. Vor allem ihrem zweiten Ehemann gab sie Geld und ging mit ihm ins Kasino – Mondorf, Schlossberg, Namur, Ostende – wo sie, spielsüchtig, gemeinsam mit ihm viel Geld verlor. Einig waren sich die beiden Psychiater darüber, dass Régine Lejeune eine kranke Frau war und ist. Ob dadurch eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit gegeben war, darüber waren sich die jeweils vom Untersuchungsrichter und der Verteidigung beauftragten Psychiater allerdings uneins.
Die Vorsitzende Richterin Mylène Regenwetter wollte trotz der von der Verteidigung vorgelegten Expertise nichts von einer eingeschränkten Handlungsfähigkeit wissen und machte dies überdeutlich. „Wenn man so argumentiert wie Sie, verurteilt man hier ja überhaupt niemanden“, fuhr sie den Experten der Verteidigung an, kramte aus beiden Berichten immer neue Details hervor, um ihre These der abgebrühten, kalten, kalkulierten, reuelosen Betrügerin zu untermauern. Auch am Mittwoch ließ sie keine Aussage unwidersprochen im Raum stehen, welche die voll geständige Angeklagte in ein minimal besseres Licht gerückt hätte. So zeigte die Richterin keine falsche Scheu, der von der Verteidigung aufgerufen Zeugin – einer Nonne des Franziskanerordens, in deren Gemeinschaft die Angeklagte nach ihrer vorläufigen Freilassung im Rahmen eines Reintegrationsprojektes zwei Jahre lebte –, ins Wort zu fallen, als diese aussagte, die Angeklagte bereue ihre Taten mittlerweile sehr. Das, fuhr die Vorsitzende Richterin dazwischen, sei eine sehr rezente Entwicklung – in den Expertenberichten, den gleichen, von denen sie am Vortag wenig bis gar nichts hielt, habe sie keine Hinweise auf Reue finden können. Sie führe nun ein sehr bescheidenes Leben, habe neue Werte entdeckt und den destruktiven Mechanismus der Kaufsucht durchbrochen, sagte die Ordensschwester aus. Woraufhin die Richterin wiederum verdeutlichte, wie wenig sie von psychiatrischen Analysen überhaupt hält: „Dann war es ja gar nicht so schwer, einfach damit aufzuhören“, triumphierte sie nachträglich über den Gutachter der Verteidigung.
So war die einzig offene Frage dieses Prozesses, entgegen der Aussage des Vertreters der Staatsanwalt, nicht etwa, was die Angeklagte mit dem vermissten Geld gemacht habe. Vielmehr können sich Prozessbeobachter wundern über die öffentlich zur Schau gestellte, vorgefasste Meinung einer Richterin, die sich redlich bemühte, die geständige Bankangestellte als skrupelloses, egoistisches Monster darzustellen, dazu mehrmals das Bild der betrogenen Familie Lejeune heraufbeschwor, der die Angeklagte jahrein jahraus ohne schlechtes Gewissen unter dem Weihnachtsbaum in die Augen schaute. Dass es der Angeklagten schlecht ging, lässt sie hingegen nicht gelten. „Woher wollen Sie das denn wissen? Weil ihnen die Angelklagte davon erzählt hat?“, lachte sie den Gutachter der Verteidigung am ersten Prozesstag aus.
Wundern kann man sich auch darüber, dass das Gericht Fragen nach der Verantwortung der Bank über die Maßen ausweichend behandelt. Denn wie kann es sein, dass niemand misstrauisch wird, wenn eine mit ausschließlich administrativen Aufgaben betraute Angestellte ständig telefoniert und regelmäßig die Sprechzimmer der Bank in der Filiale auf der Cloche d’Or oder auch am Hauptsitz auf der Route d’Esch benutzt, um ihre Kunden zu empfangen? Dass niemand Bedenken hat, wenn sie diese selbst am Empfang begrüßt und nie ins Besucherbuch eintragen lässt? Dann mit Bargeld am Schalter auftaucht und ihre Zweikonten-Zaubernummer vorführt?
Überhaupt zwei Nummerkonten hält, wozu sie ihrem Anwalt zufolge als Angestellte die Genehmigung der Bankleitung brauchte, und auf denen deutlich mehr Geld eingeht, als sie verdient? Letztere Frage stellten sich auch die Ermittler der Kriminalpolizei. Sie erhielten von der Bank eine simple Erklärung, die ihre Neugier anscheinend befriedigte: Das interne Kontrollsystem habe nur Alarm gegeben, wenn ein Angestelltenkonto ins Minus rutschte. Da die Angeklagte immer veruntreutes Geld auf dem Konto hatte, gab es nie Alarm. Dabei wusste die Bank sogar von der Spielsucht ihrer Mitarbeiterin, führte dies den Angaben der Verteidigung zufolge sogar als Argument an, um ihr 1998 Kredit zu verweigern. Dennoch gab es keine weiteren Ermittlungen, um die Verantwortung der Bank zu klären.
Den Hinweis der Verteidigung, die Konten von Frau Lejeune seien über Jahre hinweg von dem immergleichen Kollegen betreut worden, zumindest er hätte merken müssen, dass die dort registrierten Summen in keinem Verhältnis zu ihrem Gehalt standen, fegte die Richterin mit der entrüsteten Feststellung: „Aber er war doch mit ihr befreundet!“, vom Tisch. Zwar hätten die Bank und ihre Angestellten die Sicherheitsvorkehrungen etwas nachlässig gehandhabt. Doch das, war sich die Vorsitzende sicher, taten sie nur, weil sie es mit der manipulativen Angeklagten zu tun hatten. Die war schon so lange in der Bank, dass sich niemand traute, ihr Handeln in Frage zu stellen, vor allem, da sie sich auch noch mit Geschenken, Geburtstagskuchen und der regelmäßigen Bereitstellung von Frühstücksgebäck bei den Kollegen lieb Kind machte, argumentierte die Vorsitzende.
Ob die Vorsitzende Richterin da noch in ihrer Rolle ist? Gut möglich, dass die Bank wegen ihres Schlendrians nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Doch ob man sie mit solchen Aussagen in einer öffentlichen Sitzung quasi präventiv reinwaschen muss? Ein weiteres Beispiel für diese Haltung: Die Richterin stellte Lejeune wegen ihrer Kaltschnäuzigkeit zur Rede, weil diese in Situationen, da Kunden unangemeldet im Schalter nach ihrem Kontostand fragten und vom Personal mit dem Hinweis abgewiesen wurden, besagtes Konto sei nicht ihres, die Ruhe bewahren konnte. Wie da die Bank die Ruhe bewahren konnte, und weshalb die nicht wissen wollte, woher besagte Kunden denn die „Nummer“ des fremden Nummernkonto kennen würden, schien sie hingegen nicht zu interessieren.
„Wir reden hier doch nicht von einer Épicerie, sondern von einer Bank“, regte sich der Verteidiger Philippe Stroesser auf. Doch ob sich die Finanzaufsicht CSSF für diesen nachlässigen Umgang mit den Sicherheitsvorschriften interessierte, konnte bis Redaktionsschluss nicht in Erfahrung gebracht werden. Die Bank ING hat sich selbst nicht als Zivilpartei im Prozess gegen Régine Lejeune angemeldet und verweigert auch auf wiederholtes Nachfragen hin jeden Kommentar. Sie sagt nicht, weshalb sie dem Prozess als Zivilpartei fernbleibt. Beobachter mutmaßen, dass sie dem Prozess fernbleibt, um nicht offen legen zu müssen, welche Entschädigungen sie den Opfern ihrer früheren Angestellten bereits gezahlt hat, um eventuelle Schwarzgeldanlagen geheim zu halten.
Einem Geschädigten, der am Mittwoch beim Prozess anwesend war, aber nicht genannt werden will, bot die Bank an, weniger als die Hälfte der Summe zurückzuzahlen, die er Lejeune anvertraut hatte. Das fand er unakzeptabel. Nur gut ein halbes Dutzend Kunden traten beim Prozess als Zivilparteien auf. Ein weiteres Indiz dafür, dass viele der vor allem belgischen Kunden Lejeune Schwarzgeld gaben?
Doch zumindest sie fragten nach der Verantwortung der Bank, vielleicht auch, weil diese ihnen ähnlich schlechte Angebote machte. Einige der Zivilparteien forderten tatsächlich mehr Geld von Lejeune zurück, als sie noch an „Guthaben“ bei ihr hatten. Zudem strich der Verteidiger hervor, dass die meisten von ihnen bereits ein Zivilverfahren gegen die Bank angestrengt haben, wo sie, nach dem Motto „doppelt genäht hält besser“, ihr Geld von der Bank zurück verlangen. Das war der Vorsitzenden Richterin neu. Sie wunderte sich auch darüber, dass die Versicherung der Bank den Schaden nicht vollständig übernommen habe. Vielleicht wartet auch die Versicherung den Ausgang der Verfahren ab, weil sie wissen will, inwieweit die Bank in der Verantwortung ist, bevor sie zahlt?
Ein wenig erstaunt und irritiert war die Vorsitzende auch darüber, dass eine der Zivilparteien neue Belege in den Prozess einbrachte, nach denen sie mehr Geld von Lejeune zurückerhalten hatten, als von den Ermittlern errechnet. Dadurch könnten doch vielleicht Zweifel an den von ihnen vorgelegten Zahlen aufkommen. Das wäre insofern wichtig, da die Kriminalbeamten zum Ergebnis kommen, dass immer noch 4,8 Millionen Euro fehlten, die Lejeune nicht ausgegeben habe und folglich noch irgendwo horten müsse.
„Ich habe nichts mehr“, sagte die Angeklagte, „ich habe alles ausgegeben.“ Ihr zweiter Mann und sie hätten mehr Geld verspielt, als von der Polizei in ihrem Bericht veranschlagt, auch hätte sie ihrem Mann mehr Geld gegeben, als dieser bei seinem Verhör zugegeben habe. Dass sich die Beschuldigte wunderte, dass der Mann, dessen Liebe sie, wie sie dem Psychiater sagte, gekauft hatte, der offensichtlich Hauptnutznießer ihres Betrugs und offenbar ebenfalls spielsüchtig war, glaubwürdiger sein soll als sie selbst, die sich gestellt hat, ist wohl nachvollziehbar.
„Meine Mandantin ist schuldig, aber nicht allein verantwortlich“, so der Verteidiger am Mittwoch. Ob das die Bank ähnlich sieht? Denn die Eltern der Angeklagten, die die von der Bank angebotene Entschädigung annahmen, ließ ING eine Klausel unterschreiben, die sie dazu verpflichtet, künftig nicht nur von weiteren Schritten gegen die Bank abzusehen, sondern auch von einem weiteren Vorgehen gegen die Angeklagte. Umso seltsamer, dass die Bank nicht einmal der Verteidigung mitteilen wollte, mit welchen der geschädigten Parteien sie ein solches Abkommen bereits unterzeichnet hat. Régine Lejeune riskiert eine Haftstrafe von maximal zehn Jahren. Das Urteil, so der Sprecher des Gerichts, soll in spätestens fünf Wochen vorliegen.