Arbeitszeitregelung

Flexible Arbeit

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2016

Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen Unternehmervertretern und Gewerkschaften über die Reform der gesetzlichen Arbeitszeitregelung hat Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) angekündigt, sich nunmehr zurückzuziehen und den überfälligen Gesetzentwurf über Pan und Pot alleine auszubrüten. Stein des Anstoßes bleibt die von den Unternehmern verlangte Flexibilisierung des Arbeitsverhältnisses, mit der sie die Produktion möglichst kurzfristig und befristet an die Nachfrage anpassen wollen, ohne dass ihnen dadurch höhere Kosten als den Konkurrenten in den Nachbarländern entstünden. In Deutschland hat schon vor Jahren eine sozialdemokratisch-grüne Koalition den arbeitsrechtlichen Schutz weitgehend ausgehebelt, in Frankreich sind neue Massenkundgebungen gegen den Entwurf der Loi travail angekündigt, mit der die sozialistische Regierung den Kündigungsschutz und die Überstundenvergütungen verringern will.

Bisher herrschte der Eindruck vor, dass in Luxemburg die Flexibilisierung des Arbeitsverhältnisses noch wenig fortgeschritten sei, weil der Druck der Arbeitslosigkeit geringer ist, die Gewerkschaften in Schlüsselbranchen einflussreich sind und die Regierungen den sozialen Konsens pflegen. Doch die rezente Ausgabe des von der Salariatskammer jährlich veröffentlichten Panorama social – nicht zu verwechseln mit dem Sozialalmanach der Caritas – zeigt, dass die Flexibilisierung rasch zunimmt.

So gehört laut Eurostat-Angaben der Anteil der befristeten Arbeitsverträge mit 8,1 Prozent noch immer zu den niedrigsten in Europa. Aber vergangenes Jahr nahm er um zwei Drittel zu, was auch eine der höchsten Steigerungsraten in Europa darstellt. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres wurde fast die Hälfte der Berufseinsteiger zwischen 15 und 24 Jahren nur noch mit Zeitverträgen eingestellt. Seit 2007 habe die Zahl der Leute, die zwei Beschäftigungen kumulieren mussten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, um zwei Drittel zugenommen. Im gleichen Zeitraum habe auch die bis dahin niedrige Zahl der Nacht- und Schichtarbeiter um beinahe die Hälfte zugenommen, während in Frankreich die Nachtarbeit um ein Drittel zurückgegangen sei.

Durch die gestiegene Zahl der atypischen und prekären Arbeitsverträge habe auch die Zahl der working poor zugenommen. Die Eurostat-Zahlen zeigen, dass bei Teilzeitarbeiter das Armutsrisiko deutlich höher ist. Wer weniger arbeitet, verdient auch entsprechend weniger. Wer von einem befristeten Arbeitsvertrag zum nächsten „jobbt“, hat dazwischen Perioden mit geringem Einkommen und ist unfähig zu einer Lebensplanung mit Familiengründung und Immobiliendarlehen. Gar nicht zu reden von den geringeren Beiträgen zur Sozialversicherung.

Der Anteil der vom Armutsrisiko bedrohten Beschäftigten gehöre mit zehn Prozent der Lohnabhängigen inzwischen zu den höchsten in der Europäischen Union, warnt die Salariatskammer. Unter den freiwilligen und unfreiwilligen Selbstständigen sei sogar jeder Vierte vom Armutsrisiko bedroht. Dagegen lässt sich leicht einwenden, dass dies eine statistische Verzerrung durch das hohe mittlere Einkommen und die damit verbundene hohe Armutsgrenze darstelle. Aber andererseits sind auch die Lebenshaltungs- und vor allem die Wohnkosten für Beschäftigte mit niedrigen und unregelmäßigen Einkommen weit höher als in vielen anderen EU-Staaten. Wenn also über die Flexibilisierung des Arbeitsverhältnisses diskutiert wird, heißt es, auch die Lebensbedingungen der flexibel Arbeitenden im Auge zu behalten – selbst wenn die working poor vor allem exportiert werden sollen: 70 Prozent der Leiharbeiter sind Grenzpendler.

Romain Hilgert
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