Wer im Bahnhofsviertel Passanten fragt, was sie unter lebenslanges Lernen verstehen, bekommt Sprüche geklopft wie: Im Leben lernt man nie aus, Lernen tut man das ganze Leben lang oder ähnliches mehr. Dass hinter dem lebenslangen Lernen ein bildungs- und beschäftigungspolitisches Programm steht, das wissen die wenigsten. Manche verstehen darunter eine vorübergehende Mode, die sich bald wieder auswachsen wird.
Doch die Idee von einem Lernen, das ein ganzes Leben währt, ist keine neue. Erziehungswissenschaftler führen ihren Ursprung auf die 1970-er Jahre zurück, als der Wettlauf zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten seinen Höhepunkt erreichte. Damals suchten westliche Politikberater vor allem in den USA nach Wegen, um im globalen Wettbewerb die Nase vorn zu haben. Angeschoben von der Wirtschaft, die schon immer von der voll verfügbaren, flexibel einsetzbaren, allzeit bereiten Arbeitskraft träumt.
Die Vorstellung, dass man nicht mehr nur die Schule besucht und dann einen Beruf erlernt, den man den Rest seines Lebens ausübt, sondern neuerdings sein Wissen im Verlauf seines Berufslebens regelmäßig auffrischt, ergänzt und erweitert und sich somit flexibel an sich ändernde Anforderungen von Unternehmen und Arbeitsmarkt anpasst, fand ihren Weg nach Europa. Im Jahr 2000 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs im Kontext der Diskussionen um die Lissabon-Strategie auf einem Gipfeltreffen im portugiesischen Santa Maria de Feira dann eine Roadmap für ein Lifelong-Learning-Konzept, das die Mitgliedstaaten umsetzen sollten. 2009 wurde mit Europa 2020 eine LLL-Gesamtstrategie für die Bereiche Beschäftigung, Forschung, Innovation entwickelt.
Europas Musterschüler Luxemburg machte sich 2009 daran, diese Vorgaben umzusetzen, und entwickelte seine eigene Version der S3L – eine nationale Strategie des lebenslanges Lernen, von der Schule bis zur Rente –, allerdings ohne eine kritische Reflexion in der Gesellschaft über das Konzept und die dahinter liegenden Anforderungen und Wertvorstellungen geführt zu haben. Im Weißbuch S3L von 2010, das die Prioritäten für die Umsetzung des Lifelong learning benennt, heißt es vielversprechend: Aus- und Weiterbildung sollten für alle „zugänglich“ gemacht, die Mobilität der Beschäftigten verbessert werden.
Lediglich der Soziologe Helmut Willems von der Uni Luxemburg zeigte sich skeptisch und beschrieb in der Zeitschrift Forum die Ambivalenz des neuen Glaubenssatzes. Die Globalisierung der Wirtschaft habe die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten weiter erhöht, wodurch sich die beruflichen Aussichten für den Arbeitnehmer erweitert hätten. Gleichzeitig würden aber „zusätzliche Erwartungen und Zwänge erzeugt“. Die fortschreitende Technisierung in Produktion und Kommunikation habe nicht nur die Produktivität gesteigert, sondern auch zu einem „tendenziellen Anstieg der benötigten beruflichen Qualifikationen“ geführt sowie zu einem „permanenten Bedarf an Weiterqualifizierung und berufsbegleitendem Lernen in der Wissensgesellschaft“. Moderne Gesellschaften eröffneten den Menschen größere Möglichkeiten und mehr Chancen auf eine freie Gestaltung und Wahl ihres Lebensmodells, „belasten sie aber auch mit mehr Unsicherheiten und mehr Risiken“. Willems nennt einige Beispiele, die zeigen, wie das selbst gesteuerte Lernen in unserer Wissensgesellschaft kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat.
Inzwischen ist das Konzept der drei L in der Weiterbildung allgegenwärtig. Institute, die mit Slogans wie „Imagine new challenges“, „Qualifikation ist der Schlüssel zum Erfolg“, „Ma formation continue personnalisée“ werben, sprießen wie Pilze aus dem Boden. 341 private Weiterbilder sind bis heute bei der Plattform www.lifelonglearning.lu angemeldet, rund 7 000 Angebote stehen Beschäftigten in Luxemburg zur Verfügung. Besonders im privaten Bereich boomen die Neugründungen, so sehr, dass die Regierung die staatlichen Subventionen und den zugrunde liegenden Finanzierungsmodus überdenken will. Die Investition in Weiterbildung, in neues Wissen oder neudeutsch: Kompetenzen, gilt als Anlage, mit der sich der Arbeitnehmer seine Zukunft, und somit Karriere, Wohlstand und Anerkennung sichert.
Tatsächlich gibt es unzählige Statistiken, die zeigen, dass qualifizierte Fachkräfte besser verdienen und dass sie, sollten sie ihre Beschäftigung verlieren, bessere Chancen haben, um schnell wieder eine Arbeit zu finden. So machten Niedrigqualifizierte im Januar 2016 42,06 Prozent der Erwerbslosen aus, bei den Hochqualifizierten betrug der Anteil lediglich 18 Prozent.
Doch gerade die, die es nötig hätten, die Geringqualifizierten, besuchen Weiterbildungen seltener. Soziologen nennen das den Matthew-Effekt: Ausgerechnet jene, die im Falle von Arbeitslosigkeit Unterstützung besonders bräuchten, werden von den Angeboten weniger erreicht. Der Direktor des Lifelong-Learning-Zentrums, Claude Frising, fordert deshalb insbesondere für Geringqualifizierte den Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen zu vereinfachen, um den Teufelskreis zu durchbrechen.
Die Verheißung, dass der Einzelne in einer flexibilisierten Arbeitswelt seinen Weg nach oben machen wird, wenn er sich nur genügend anstrengt, stimmt so pauschal nicht. Der Soziologe Pierre Bourdieu sprach von einer „Illusion der Chancengleichheit“. In Luxemburg kennt man das Phänomen aus dem Schulwesen: Kinder aus besser gestellten Familien schließen die Schule häufiger mit Diplom ab, als ihre Klassenkameraden aus sozial schwachen Familien.
Die Ungerechtigkeit setzt sich in der Arbeitswelt und auf dem Arbeitsmarkt fort: Geringqualifizierte sind häufiger arbeitslos, sie bleiben länger ohne Arbeit – und sie werden von Weiterbildungsmaßnahmen seltener erreicht. Besonders Führungspersonen nutzen die Fortbildungsmaßnahmen, das zeigen Studien.
Dank der Logik der drei L geschieht noch etwas: Strukturelle Ursachen für Arbeitslosigkeit und geringere Entlohnung werden ausgeblendet und dem Einzelnen zugeschoben. Nach dem Motto: Jeder ist seines Glückes Schmied und somit für seine Beschäftigung und seinen Erfolg – oder sein Scheitern – selbst verantwortlich. Um sich vor Arbeitslosigkeit zu schützen, ist der Arbeitnehmer aufgefordert, stets auf dem neusten Stand der Technik und Methodik zu sein, die eigene Employability, die Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt, hängt entscheidend von der Investition in die eigenen Fähigkeiten ab. So wird zumindest suggeriert. Verliert eine Arbeitnehmerin trotzdem ihren Job, oder findet sie trotz Weiterbildung keine Anstellung, muss sie etwas falsch gemacht haben, vielleicht eine ungeeignete Weiterbildung besucht oder sich zu spät gekümmert haben. Oder, oder, oder. Der Einzelne trägt das Risiko, wenn er mit seinem Versuch, sein Profil zu optimieren, scheitert. Dass er womöglich entlassen wurde, weil seine Firma Arbeitsplätze nach Fernost verlagern will, weil Computer oder Roboter seine Tätigkeit übernommen haben oder weil der Chef schlecht gewirtschaftet hat und nun beim Personal sparen will, gerät aus dem Blick.
Dabei zeigt die Wirklichkeit, dass gute und höhere Abschlüsse längst keine Garantie mehr für das berufliche Weiterkommen sind: Wer ein Diplôme d’aptitude (DAP, Gesellenbrief) vorweisen kann, hat bessere Chancen, eine Beschäftigung zu finden als jemand mit einem Diplôme de technicien (DT). 87 Prozent der DAP-Abgänger fanden binnen drei Jahre eine Anstellung, aber nur 79 Prozent der DT-Absolventen. Auch bei den unbefristeten Arbeitsverträgen hatten Absolventen mit einem DAP gegenüber Kollegen mit einem DT die Nase vorn. Allerdings stimmt auch: Die schlechtesten Chancen haben Jugendliche und junge Erwachsene, die überhaupt keinen Abschluss vorweisen können.
Jugendliche aus Ländern wie Spanien, Portugal und Italien, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, können ein Lied von den falschen Versprechungen der LLL-Strategie singen: Nie zuvor hatten so viele von ihnen ein Unidiplom, vielfach sogar nicht nur eines – doch das zahlt sich nicht mehr automatisch aus: In diesen Ländern ist die Arbeitslosigkeit bei der Jugend am höchsten. In Luxemburg ist die Situation vergleichsweise gut, aber auch hierzulande ist ein Hochschulabschluss keine Garantie für eine rasche, nahtlos an die Ausbildung anschließende Festanstellung. Die, die noch keinen Bachelor oder Master haben, nutzen die Zeit und bilden sich weiter.
Doch eine gute Weiterbildung kostet Zeit und Geld. Und setzt voraus, dass der Suchende weiß, wo er qualitativ hochwertige Schulungen findet. In Luxemburg fehlen qualitative Analysen über den Zugang und zur Wirkung von Weiterbildungen; sehr wahrscheinlich haben Geringqualifizierte auch deshalb das Nachsehen, wil sie oft in kleineren Betrieben oder im Gaststättengewerbe arbeiten, wo es schwieriger ist, frei zu nehmen, um sich weiterzubilden. In die Fortbildung der Angestellten zu investieren, macht für ein Unternehmen vor allem Sinn, wenn es einen Arbeitnehmer dauerhaft halten will. Das ist bei Geringqualifizierten seltener der Fall, da ihre Arbeitskraft eher austauschbar ist.
In Luxemburg hat jeder Arbeitnehmer zwar das Recht, bis zu 80 Tage in seiner Karriere für die eigene berufliche Weiterbildung zu nutzen, aber er darf maximal 20 Tage in zwei Jahren nehmen – eine anspruchsvolle Ausbildung braucht jedoch oft ein Vielfaches dieser Zeit. Fällt die Weiterbildung in die Zeit der Arbeitslosigkeit und wird sie nicht vom Arbeitsamt finanziert, entstehen möglicherweise neue Härten.
Noch etwas geschieht bei der staatlich promovierten LLL-Strategie: Die Grenze zwischen Leben (Freizeit) und Lernen (Arbeit) verschwimmt zusehends: Durch eine „Totalisierung des Lernens im Lebenslauf wird Lernen strategisch zu einem Prinzip des Über-Lebens stilisiert“, schreibt der Erziehungswissenschaftler Peter Kossack von der Universität Potsdam, will heißen: War es früher die Arbeitskraft des Arbeitnehmers, die er verkauft hat, ist es nun sein ganzes Leben, das er der Arbeit und dem Lernen unterordnet. Ein Leben jenseits der andauernden Selbstoptimierung gibt es nicht mehr. Wer es trotzdem wagt, muss entweder mit weniger Einkommen auskommen – oder mit dem Risiko leben, von anderen aussortiert oder dauerhaft abgehängt zu werden.