Vor den Osterferien war es wieder so weit. Da wurden in den sechsten Jahrgängen der Grundschule die Épreuves in Deutsch, Französisch und Mathematik geschrieben. Damit da bloß nichts schiefging, wurden, wie das so geht, in manchen Schulen seit der Rentrée vor allem diese drei Fächer unterrichtet und den Kindern erzählt, nach den Osterferien beginne die Party aus Exkursionen, Musik, Zeichnen und naturwissenschaftlichem Unterricht.
Doch in Wirklichkeit geht nach den Ferien die Panik weiter, wenn die „Orientierung“ beginnt und um den sozialen Aufstieg ihres Nachwuchses besorgte Eltern sich mit Lehrern zusammensetzen, die wissen, dass sie nur Lakaien eines verkorksten Systems sind, und mit Schulpsychologen, die vergebens rufen: „Bloß nicht zu viel Druck!“, denn ihnen ist nur zu klar, dass Eltern und Schulen die Ausleseprinzipien und die Angst davor an die Schülerinnen und Schüler weiterreichen.
Dabei stehen die Chancen gar nicht schlecht, dass sich um ihre Zukunft selbst die keine Sorgen zu machen brauchen, die in ein paar Jahren nur einen einigermaßen passablen Schulabschluss vorweisen können oder ihr Abitur gerade so geschafft haben: In den 2020-er Jahren werden besonders viele Jobs frei, weil die dort Beschäftigten in Rente gehen. Das wird eine ganze Weile anhalten, denn diese Baby-Boomer-Generation umfasst die Jahrgänge 1950 bis 1964, die besonders geburtenstark waren und heute die Prominenz in der Gesellschaft stellen.
Der Trend vom Baby-Boom zum „Papy-Boom“, wie er im Ausland genannt wird, besteht bereits: Im Privatsektor sind mehr als ein Fünftel der Beschäftigten „Senioren“, das heißt, 50 oder älter. Dieser Anteil ist innerhalb von nur zehn Jahren um 50 Prozent gewachsen. Die Zahl der Altersrentenbezieher nimmt immer weiter zu: Lag sie 2012 im Allgemeinen Regime (ohne die vor dem 1. Januar 1999 im öffentlichen Dienst Eingestellten) bei 94 402 Personen, waren es 2014 schon 103 592.
Die demografische Tendenz ist in ganz Europa dieselbe. Und so wird beispielsweise in Deutschland schon seit ein paar Jahren eine „Ingenieurlücke“ von über 40 000 Stellen beklagt, die nicht besetzt werden können. In der deutschen Handwerksbranche blieben 2011 mehr als 7 000 Lehrstellen ohne Anwärter. Für Belgien prognostiziert die Universität Louvain eine halbe Million vakanter Arbeitsplätze, vor allem in den Bereichen Gesundheit und Pflege sowie in der Gastronomie. Selbst in Frankreich, wo ähnlich wie in Großbritannien mit einem Bevölkerungswachstum gerechnet wird, das die Einwohnerzahl innerhalb der nächsten Jahrzehnte über die des derzeit noch bevölkerungsreichsten EU-Staats Deutschland heben wird, kam eine Studie im Auftrag der Regierung zu dem Schluss, bis 2022 werde es 735 000 bis 850 000 Stellen zu besetzen geben und 74 bis 84 Prozent davon würden auf Abgänge in die Rente zurückzuführen sein.
Für Luxemburg gibt es solche Zahlen nicht. Noch kann von Arbeitskräfteknappheit offenbar nicht die Rede sein: Das Retel-Register des Arbeits- und Beschäftigungsministeriums, das je nach Branchen die Zahl der neu abgeschlossenen Arbeitsverträge der Zahl der beendeten Verträge gegenüberstellt, verzeichnete für das vergangene Jahr noch überall einen Überhang der Neuanstellungen.
Je nach Sektor aber werden sich durchaus Sorgen gemacht, dass Jobs unbesetzt bleiben könnten und die Reservearmee in der Großregion sich verkleinert. Der Pflegedienstleisterverband Copas etwa, Dachverband einer Branche, die seit 15 Jahren boomt und längst mehr Beschäftigte zählt als die Stahlindustrie, hielt schon vor vier Jahren die grenznahen Regionen für „so gut wie leer gefischt“ (d’Land, 20.01.2012) und arbeitet derzeit daran, den Arbeitskräfte- und Qualifikationsbedarf der Zukunft genauer zu ermitteln.
Der Bankenverband ABBL dagegen antwortet gar nicht auf die Anfrage. Was vielleicht daran liegt, dass Prognosen dort als besonders schwierig angesehen werden: Als der Wirtschafts- und Sozialrat 2014 ein Gutachten über die „Nachhaltigkeitsaussichten“ der gesamten Finanzbranche schrieb, rechnete er mit einer „Umstrukturierung“ in den nächsten Jahren, die allenfalls zu einem Mangel an Spezialisten führen werde. So ähnlich wird das auch im Industriellenverband Fedil gesehen: „Wenn Betriebe in die Krise kommen und Personal abbauen, ist der Papy-Boom für sie sowieso kein Problem.“ Schwierig sei es aber schon heute, „besonders qualifizierte Mitarbeiter zu finden“. Gingen solche Kompetenzträger in Rente, könne es „durchaus Engpässe geben“, meint Fedil-Direktor René Winkin.
Auch im Einzelhandel und im Transport- und Logistikbereich sorgt man sich noch nicht. Das liegt aber auch an der Datenlage: „Der prospektive Ansatz ist in Luxemburg noch wenig verbreitet“, findet Thierry Nothum, Direktor der Handelskonföderation. Sicher sei dagegen, dass auch im Einzelhandel die Qualifikationsanforderungen zunehmen würden: „Soft skills im Umgang mit dem Kunden, Computerkenntnisse und immer größeres Wissen um die Produkte, die man verkauft.“ Im Transport- und Logistiksektor gebe es „bisher noch keine Rekrutierungsprobleme, wir können noch auf die Großre-gion zurückgreifen“, sagt Malik Zeniti, Koordinateur des Logistik-Clusters. In den Nachbarländern dagegen sei es bereits schwierig geworden, Personal zu finden. „In einer Fachzeitschrift habe ich gelesen, dass deutsche Fuhrunternehmer LKW-Fahrern mittlerweile Firmenwagen als Bonus zum Lohn zur Verfügung stellen, um sie zu halten.“
Am stärksten betroffen von einer Arbeitskräfteknappheit, die noch zunehmen könnte, scheint das Handwerk zu sein: „Für 70 Prozent unserer Mitglieder ist der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften das Haupthindernis für die Entwicklung des Betriebs“, berichtet der stellvertretende Generalsekretär des Handwerkerverbands, Christian Reuter. Vor allem im Bauwesen ist der Anteil der über 50-jährigen Beschäftigten mit 20 Prozent besonders hoch. Dass Jahr für Jahr 150 bis 200 Lehrstellen in Gewerben, die mit dem Bau zusammenhängen, unbesetzt bleiben, werde sich in Zukunft wohl noch verschärfen.
Es könnte natürlich sein, dass die Immigration dem Arbeitsmarkt neue Anwärter zuführt. Die Regierung nahm 2015 im jährlichen Stabilitätsprogramm kühn an, Wirtschaftswachstumsraten von um die drei Prozent seien in Luxemburg bis in die Mitte der 2030-er Jahre nicht zuletzt deshalb möglich, weil Jahr für Jahr ein Einwanderungsüberschuss von 10 000 Personen verbucht und bis 2035 die Bevölkerung auf 800 000 bis 900 000 Einwohner zugenommen haben könnte. Dann würde man nicht einmal wirklich von einem Abreißen des Baby-Booms sprechen können, denn der Anteil der 15- bis 24-Jährigen an der Bevölkerung werde vielleicht bis in die 2040-er Jahre unverändert sieben Prozent betragen.
Doch ein derart nachhaltiges Wachstum, träte es ein, würde wiederum neue Jobs schaffen. Bedenkt man, welche demografischen Probleme die Nachbarländer jetzt schon haben, könnte umso realistischer erscheinen, was das Metzer Forschungsinstitut Agape im Herbst 2013 für die Großregion skizziert hatte: In Luxemburg könnten bis 2030 rund 230 000 Arbeitsplätze nicht besetzt werden: 150 000 neu geschaffene Stellen und 80 000, die wegen Verrentungen neu vergeben werden müssten. Auf deutsche Grenzpendler aber werde Luxemburg dann nicht mehr zählen können, da Rheinland-Pfalz und das Saarland durch Pensio-nierungen 650 000 Berufstätige verlieren dürften. Aus Wallonien könnten allenfalls 20 000 zusätzliche Frontaliers angezogen werden – dann bliebe nur noch Lothringen als regelrechtes „Reservoir“. Doch weil sich auch dort der Trend zum „Papy Boom“ bemerkbar macht, könnte, je nach Branche, eine Konkurrenz um Arbeitskräfte entstehen, vielleicht sogar eine, die zu politischen Problemen zwischen Luxemburg und der Lorraine führt.
Was davon Wirklichkeit werden könnte, ist in einem kleinen und offenen Land wie Luxemburg besonders schwer vorherzusagen. Dass die Abgänge in die Rente stark zunehmen werden, steht allerdings fest und damit spricht vieles dafür, dass für Schüler von heute die Job-Aussichten besser werden. Das Problem ist jedoch, dass die grassierende Bildungspanik eine andere Geschichte erzählt und statt von Chancen und Aufbruch von reduzierten Erwartungen berichtet, denen sich angeblich am besten über einen Platz an einem besonders angesehenen Lycée classique begegnen lasse. Das jedoch ist Ausdruck einer Gesellschaft der Ängstlichkeit, die schon im Voraus wissen will, was kommt und wie viel an Gehalt und Prestige zu haben sein wird. Lebenschancen aber haben zum Glück nach wie vor nicht allein damit zu tun.