Als der Medizinstudentenverband Alem sich am 28. Dezember in Hollerich zu seiner Jahresversammlung traf, war ihm einer der geladenen Gäste ganz besonders willkommen: Ludwig Neyses. Denn der Vizerektor für Forschung an der Universität Luxemburg ist nicht nur Medizinprofessor und Kardiologe und damit ein confrère. Vor allem hat er ein Konzept für einen Medizinstudiengang an Uni.lu entworfen und leitet ein Comité de pilotage, das die Idee einer Luxembourg Medical School ausfeilen soll. Auf dem Alem-Treffen trug Neyses sein Konzept vor, und der begeisterte Vorstand des Studentenverbands ließ anschließend die Presse wissen: „2014 wird ein außerordentliches Jahr.“
Die Euphorie war verständlich. Luxemburger Medizinstudenten haben es nicht leicht. 2011 studierten drei Viertel von ihnen in einem der drei Nachbarländer. Doch in Deutschland und in Frankreich gilt ein Numerus clausus, der deutsche ist besonders streng. In Belgien ist zumindest an den wallonischen Universitäten seit 2013 eine Quotenregel in Kraft, die für Studien in Medizin und Zahnmedizin nur noch 30 Prozent non-résidents zulässt, unter denen die Plätze ausgelost werden. Nicht mal, wer das erste Jahr seines Medizinstudiums im Bachelor-Studiengang Life Sciences an der Uni Luxemburg absolviert, kann sich anschließend der Übernahme durch eine deutsche, französische oder belgische Uni sicher sein. In Wallonien gilt die Quotenregel auch im zweiten Studienjahr. Dass jeweils fünf Plätze in Louvain, Brüssel und Lüttich reserviert sind für Absolventen des ersten Jahrs in Luxemburg, war einmal. Die 34 in Frankreich reservierten und die zehn in Deutschland – dort zusätzlich noch einer für angehende Dentisten – gibt es zwar noch. Doch wenn von den 100 Studenten mit Traumberuf Arzt, die das erste Jahr in Luxemburg antreten, am Ende im Schnitt 50 alle Examen schaffen, sind 44 Plätze an französischen und deutschen Unis nicht genug. Zumal die in Deutschland nur Studenten mit Luxemburger Staatsbürgerschaft offen stehen: eine ungünstige Klausel für die Bevölkerungsvielfalt hierzulande.
Neyses, selber Deutscher, ist sich sicher: „In Deutschland wird die Lage nicht besser.“ Die dortigen Unis, erklärt er dem Land, müssten aufpassen, keine Landsleute zu diskriminieren. Sonst drohten ihnen Gerichtsklagen im Numerus clausus abgelehnter Bewerber. Da bleibe auf längere Sicht nur Frankreich als sicherer Hafen nach dem ersten Jahr Medizin in Luxemburg.
Klar, dass eine eigene Medizinerausbildung dem Engpass abhelfen könnte. Das hielt schon die vorige Regierung für denkbar, ließ von der Uni Luxemburg aber erst einmal ermitteln, ob ein Medizinstudiengang wirklich „nötig und sinnvoll“ wäre. Der rührige Vizerektor, der zwölf Jahre lang an der Universität Manchester lehrte, ehe er im vergangenen Jahr nach Luxemburg kam, verantwortete nicht nur die Machbarkeitsstudie, sondern hat mittlerweile sogar schon die ersten Curricula für die Ausbildung an einer Luxembourg Medical School schreiben lassen. „Wenn wir das Go kriegen“, sagt er, „können wir 2016 loslegen.“
Die Gesundheits-Szene hat Neyses schon hinter sich. Die Direktionen der Spitäler finden die Idee gut. Der Collège médical ist „positiv eingestellt“, erklärt sein Präsident Pit Buchler. Der Generalsekretär des Ärzteverbands AMMD, Claude Schummer, meint: „Das ist interessant, das kann man machen.“ Auch Marie-France Liefgen, Vizepräsidentin des Krankenpflegerverbands Anil, gefällt der Ansatz. Und was sagt die Gesundheitsministerin? „Ich bin eine Verfechterin der Medical School!“, bekennt Lydia Mutsch (LSAP). So dass es scheint, als könne die Ärzteschule tatsächlich demnächst loslegen. Oder?
Das muss der Regierungsrat entscheiden. Er segnet alle vier Jahre ein Update des Plan d’établissement der Universität ab und koppelt daran eine Dotation aus dem Staatshaushalt. Was die blau-rot-grüne Koalition im Regierungsprogramm zur Medizinerausbildung festgehalten hat, liest sich allerdings nicht wie ein Bekenntnis zur Medical School: Man werde entweder einen eigenen Medizinstudiengang einrichten oder die enge Kooperation mit Unis in der Großregion suchen, also: neue Platzreservierungen für Studenten nach dem ersten Jahr an Uni.lu aushandeln. Nachdem die vorige Regierung die Machbarkeitsstudie bestellt hatte und Uni-Rektor Rolf Tarrach eine Woche vor den Wahlen erklärte, im neuen Vierjahresplanentwurf der Universität sei der Medizinstudiengang schon vorgesehen (d’Land, 11.10.2013), sieht das Spiel mit den Optionen im Koalitionsvertrag aus wie ein Schritt zurück.
Dabei hat Ludwig Neyses in seinem Konzept bereits bedacht, dass die Medizinerausbildung eine teure Angelegenheit würde. Sechs Jahre medizinische Grundausbildung – die Weiterqualifikation zum Facharzt kommt später – würden um die 300 000 Euro pro Student kosten, „egal ob in Manchester oder in Heidelberg“. Eine medizinische Fakultät an einer Universität müsste, um sämtliche Disziplinen des Fachs abzudecken, wenigstens 50 bis 60 Professoren haben. Weil jeder von ihnen eigene Assistenten und Forschungskapazitäten reklamieren würde, könne man von einem jährlichen Aufwand von rund einer Million Euro pro Lehrstuhl ausgehen, so Neyses. Macht 60 Millionen für eine ganze Fakultät. Würde der Luxemburger Staat die bereitstellen, könnte er als Gegenleistung Jahr für Jahr mit 200 neu ausgebildeten Ärzten rechnen.
Doch nicht nur wäre es eine Illusion zu glauben, der Staat gebe so viel Geld her, denn 60 Millionen Euro entsprechen immerhin einem halben Jahresbudget der Uni. 200 neue Ärzte im Jahr wären auch zu viele. Die Ärztedemografie ist zwar nicht günstig hierzulande, weil das Gros der Mediziner zwischen 45 und 60 Jahre alt ist. Doch dass demnächst fast jeder Zehnte der rund 2 200 aktiven Ärzte in Rente geht und durch einen jungen ersetzt werden müsste, trifft nicht zu. Allenfalls könnte der Bedarf an Nachwuchs bei hundert im Jahr liegen. Neyses Plan ist, die Hälfte davon in Luxemburg auszubilden und in einer ersten Phase zunächst 25 neue Studenten pro Jahr aufzunehmen. Weil die Kosten pro Student am Anfang bei rund 30 000 Euro liegen und erst im sechsten Jahr auf 70 000 Euro steigen, würden die Ausgaben für den Staat während einiger Jahre im einstelligen Millionenbereich bleiben.
Dass so eine Sparvariante schwerlich 50 bis 60 Medizinprofessorenposten samt Assistenten und Labors rechtfertigt, versteht sich natürlich, aber die Besonderheit einer Medical School „nach angelsächsischem Vorbild“, so Neyses, besteht eben darin, dass man so viel Lehrkapazität nicht braucht. „Die Medical Schools in Großbritannien und Irland sind alle nicht groß. Die in Oxford zum Beispiel nimmt 150 Studenten im Jahr neu an.“ Dafür verzichteten diese Schulen auf die volle Professorenausstattung, wie eine medizinische Fakultät nach kontinentaleuropäischem Vorbild sie hat. Neben den Lehrstühlen für das Grundstudium leisten Medical Schools sich vor allem Professuren in ausgewählten Fachgebieten. In denen werde dann auch geforscht; und zwar mit Weltspitzenanspruch.
Am Ende sieht Neyses’ Konzept so aus: Zehn bis 15 Professuren werde die Uni Luxemburg neu einrichten müssen, aber vieles an Lehre im Grundstudium könne von Hochschullehrern abgedeckt werden, die sie im Fach Life Sciences schon hat. Für die klinische Ausbildung dagegen brauche man nicht unbedingt Universitätsprofessoren, das könnten auch erfahrene Krankenhaus-Fachärzte. Luxemburger Ärzte über ein strenges Auswahlverfahren als Lehrkräfte an die Medical School zu verpflichten und daraus ein kleines, sehr familiäres Ausbildungsangebot mit viel Praxisbezug und intensivem Tutorat der Studenten durch ihre Arzt-Mentoren zu stricken – darin besteht der eigentliche Clou der Medical-School-Idee. Auf eine Ende Dezember an die Ärzte gerichtete Umfrage, die testen sollte, wie groß unter ihnen das Interesse sei, sich am „Teaching“ an der Medical School zu beteiligen, habe es 150 positive Antworten gegeben: „Viel mehr als ich erwartet habe!“, freut sich Neyses.
So weit, so gut. Doch was genau der Vizerektor unter welchen Umständen in Luxemburg für machbar hält, und vor allem, wie die Universität insgesamt dazu steht und sich die Umsetzung der Idee vorstellt, ist nicht publik. Uni-intern hat Neyses’ Konzept zwar alle Gremien mit Erfolg passiert, aber unumstritten ist es nicht. Konsens scheint zu sein, dass die Medical School einen guten Kompromiss darstellt zwischen einer medizinischen Fakultät, die für Luxemburg zu groß wäre, und der Option „Nichts tun“, mit der man weiter darauf vertraut, dass ausländische Ärzte ins Land kommen, weil die Luxemburger Kassentarife attraktiv sind – was aber voraussetzen würde, dass man das Gesundheitssystem aus strategischen Erwägungen teuer hält. Aber nicht nur Human- und Sozialwissenschaftler bei Uni.lu, die sich oft wie das fünfte Rad am Wagen der Exzellenzuni vorkommen, erklären, sie wüssten nicht genau, was mit der Medical School auf die Universität zukäme. Auch so manchen Naturwissenschaftlern ist die Idee nicht geheuer. Gefürchtet wird die Ärzteschule als Konkurrentin um Forschungsgelder – und dass ihre Projekte allzu prioritär werden könnten, weil sie der Gesundheit dienen.
Letzten Endes dreht sich viel ums Geld. Das war schon Anfang Oktober so, als Rektor Tarrach dem Luxemburger Wort in einem Interview erzählte, eine „medizinische Fakultät“ werde „ab 2017“ zu einem „kostenintensiven Faktor in unserem Haushalt“ und er fürchte, „dass wir am Ende etwas auf die Beine stellen, für das wir dann im Anschluss nicht ausreichend Mittel zur Verfügung haben“. Worauf Uni-Aufsichtsratspräsident Marc Jaeger sich genötigt sah, derselben Zeitung eine Woche später zu erklären, vorgesehen sei keine Fakultät, sondern „eine Art Medical School“, hinter der er übrigens „voll und ganz“ stehe. Kosten werde sie erst ab 2019 etwas. Der definitive Vierjahresplanentwurf der Uni sieht nun jedoch vor, schon 2016 in die Ausbildung einzusteigen, zunächst jedoch nur einen Medizin-Bachelor mit drei Jahren Ausbildungsdauer anzubieten. Gleichzeitig würde der Master-Studiengang, der sich anschließen soll, vorbereitet und 2019 starten. So ließen sich die Kosten für den Einstieg in die Ausbildung über zwei Vierjahrespläne strecken.
Hochschul- und Forschungsminister Claude Meisch (DP) will diesem Ansatz aber noch nicht zustimmen. „Die Richtung ist gut, aber ich möchte, dass wir uns einig werden, was wir wirklich brauchen und welche Mittel wir uns dafür geben“, sagt er dem Land. Die im Koalitionsvertrag erwähnte Alternative, Kooperationen mit dem Ausland, sei „ganz klar eine zweite Piste“. Meisch möchte eine „ruhige und ergebnisoffene Diskussion“. Den Ausbildungsstart mit dem Bachelor werde er nicht im neuen Plan d’établissement festhalten. „Das käme schon einem Engagement des Staates gleich, so weit wollen wir nicht gehen.“ Aber dass die Uni „im Laufe des Jahres 2015 zur Medical School eine Antwort von der Politik erhält“, das werde ihr in dem Plan garantiert.
Was Meisch nach eigenem Bekunden umtreibt, ist nicht nur die Geldfrage. Sondern auch die, ob eine Medizinausbildung hierzulande tatsächlich hohe Qualität garantieren könnte. Meisch erwähnt, dass er in seiner Zeit als Differdinger Bürgermeister erst dem Verwaltungsrat des früheren Hôpital Princesse Marie-Astrid in Niederkorn vorsaß und nach der Fusion des HPMA mit dem Centre hospitalier Émile Mayrisch in dessen Verwaltungsrat Platz nahm: „Wir müssen nicht nur klären, was die Uni leisten müsste, sondern auch, wie unsere Krankenhauslandschaft für eine universitäre Medizinerausbildung beschaffen sein müsste.“ Dass in die aktuelle Situation, „in der jedes Spital des anderen Feind ist und alle um schwere Technik und Ärzte konkurrieren“ eine Medical School passt, bezweifelt der Hochschulminister.
Das aber ist eine ganz sensible Frage. Eigentlich entsprächen die Luxemburger Krankenhäuser mit zusammengenommen an die 2 500 Betten und den rund 800 Millionen Euro jährlichem Globalbudget der Gesundheitskasse CNS für den Spitalsektor ziemlich genau der Größe und dem Umsatz einer deutschen oder französischen Universitätsklinik. Doch Vorhaben wie die Bildung klinischer Kompetenzzentren stehen vorerst noch ebenso auf dem Papier im Koalitionsvertrag wie die Optionen zur Medizinerausbildung. Dass die Rolle der Krankenhausärzte neu definiert werden soll, man die Gebührenordnung überarbeiten will, ebenfalls. Kein Wunder, dass auch die Gesundheitsministerin von „Qualität“ spricht, wenn es um die Medical School geht, und dann sagt: Ja, eigentlich müsse man erst wichtige Punkte aus dem gesundheitspolitischen Kapitel des Regierungsprogramms umsetzen, ehe an einen Start der Medical School zu denken sei. Welche Punkte das sein sollen, will Lydia Mutsch bis September dieses Jahres definiert haben.
Ob unter diesen Umständen eine Antwort der Politik an die Universität schon im Laufe des kommenden Jahres gegeben werden kann, wenn Luxemburg überdies im zweiten Halbjahr 2015 mal wieder eine EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, bleibt abzuwarten. Aber natürlich stellt die Frage sich, was man bis dahin für jene Absolventen des ersten Jahres Life Sciences an Uni.lu unternimmt, für die voraussichtlich keine reservierten Plätze im Ausland zur Verfügung stehen: Schließt man auf die Schnelle neue Deals ab – wobei die Regierung schon davon ausgeht, dass die etwas kosten werden? Oder wird der Uni am Ende doch der Dreijahres-Bachelor genehmigt, der noch keine allzu intensive Arbeit der Studenten an Spitälern umfasst, der Medizin-Master dagegen nicht gleich im Anschluss, weil die Krankenhäuser noch nicht fertig reformiert sind?
Ludwig Neyses hält darauf, dass das Masterstudium an der Medical School nahtlos an den Bachelor angechlossen werden müsste: „Es wäre nicht realistisch, die Studenten nach dem Bachelor ins Ausland zu schicken, denn sie würden aus Kapazitätsgründen nicht angenommen – das klinische Studium ist ja der Engpass.“ Es sei denn, man würde die ausländischen Krankenhäuser bezahlen, aber das würde teuer, könnte Qualitätsprobleme aufwerfen und ließe das Geld nicht in Luxemburg.
Sébastien Rinaldetti, der Vizepräsident des Medizinstudentenverbands Alem, fände es sogar „katastrophal“, wenn Luxemburg nur drei Jahre Bachelor anböte: „Von Universität zu Universität entwickeln sich die Curricula in Medizin immer weiter auseinander, man könnte überhaupt nicht sicher sein, mit einem Luxemburger Bachelor überall zum Master-Studium akzeptiert zu werden – trotz aller Bologna-Regeln.“
So dass, wie auch immer, als realistischste Kurzfrist-Option nur bleibt, dass die Regierung Vorzugs-Studienplätze im Ausland aushandelt oder einkauft. Bisher geschieht das noch nicht. Auch informelle Gespräche habe es noch nicht gegeben, sagt der Hochschulminister; auch nicht, als Premier Xavier Bettel (DP) unlängst seinen belgischen Amtskollegen Elio di Rupo traf. „Wir müssen uns“, meint Claude Meisch, „erst einmal darüber einigen, was wir brauchen.“