Am 21. November 1811 begingen der Dichter Heinrich von Kleist und Henriette Vogel, die Frau eines preußischen Steuerbeamten, in einem Wald bei Berlin gemeinsam Selbstmord. Mit einer Pistole erschoss der nur 34 Jahre alte Kleist zunächst sie und dann sich selbst; Henriette Vogels Abschiedsbrief entnahm man später, dass beide den Freitod gemeinsam geplant hatten. Verbürgt ist auch, dass der zu jener Zeit so gut wie mittellose Dichter nach einer Frau suchte, die mit ihm in den Tod gehen würde, und dass Henriette Vogel krebskrank gewesen sein soll.
Die Österreicherin Jessica Hausner hat aus dieser Begebenheit eine raffinierte Parabel um eine amour fou komponiert. Auf den Kinoleinwänden ist die „verrückte Liebe“ ein immer wiederkehrendes Thema. Zwei Menschen, deren Leidenschaft füreinander keine Grenzen kennt, die ungezügelten Sex erleben, die sich ihren gegenseitigen Projektionen hingeben bis zur Selbstaufgabe und bei alldem vielleicht noch auf moralisch verbotenem Terrain unterwegs sind – das ist ein dankbares und kaum erschöpfliches Geschichten-Reservoir.
Das Besondere an der österreichisch-deutsch-luxemburgischen Koproduktion Amour fou ist dagegen die völlige Abwesenheit von Leidenschaft. Alles Verrückte wird durch Worte mitgeteilt. Hausners Kleist ist ein Mann, der Frauen zu überreden versucht; nicht nur zur Liebe, sondern zum gemeinsamen Sterben als ultimativem Liebesbeweis. Erst nachdem seine beste Freundin, die 16 Jahre ältere Cousine Marie von Kleist, seinen Wunsch nonchalant zurückgewiesen hat, verfällt er auf Henriette Vogel und beginnt ihr einzureden, sie sei am Leben so verzweifelt wie er.
Eine 200 Jahre alte Geschichte vor allem durch Worte zu erzählen, hätte einen anstrengenden Film ergeben können. Amour fou aber ist unterhaltsam und überraschend modern, und das obwohl seine Inszenierung über weite Strecken einem Theaterstück gleicht: Die Texte werden eher deklamiert als im Spiel gegeben, die Handlung findet fast nur in Innenräumen statt und wurde aus beinah stets derselben distanzierten Kameraposition aufgenommen. Doch Hausner kann ein meisterhaft agierendes Darstellerensemble aufbieten. Was dem Film vordergründig an Emotionen fehlt, wird ausgeglichen durch ein Spiel, das Hintergründe und Abgründe erahnen lässt.
Und: Man befindet sich in Preußen zu Beginn des 18. Jahrhunderts zur Zeit der Romantik. Während im nach-revolutionären Frankreich Napoleon eine Staatsidee vertritt, zu der die Gleichheit aller vor dem Gesetz gehört, zeigt Amour fou eine immer gleiche Gruppe gehobener Bürger und kleiner Adliger, die sich zu Kaffee und Kuchen oder zu Liederabenden trifft. Dort wird dann erörtert, dass der preußische Feudalstaat auf der Hut sein müsse vor allem Französischen. Dass der damalige Kanzler Hardenberg soeben eine Steuerreform durchgesetzt hat, die auch dem Adel Steuern abverlangt, wird nicht nur als Zumutung abgelehnt, sondern auch als unerhörte „französische“ Tendenz. Kleist ist in der Runde der einzige Fürsprecher solcher Reformen, was andeutet, was für ein gesellschaftlicher Außenseiter er kurz vor seinem Tode war: Seine Theaterstücke waren beim König zunehmend in Ungnade gefallen, die letzten erhielten Aufführungsverbot. Dass Hausners Kleist sagt: „Ich bin am Leben gescheitert“, ist auch eine politische Feststellung.
Was Amour fou, den Bady Minck koproduziert hat und der kürzlich mit zwei österreichischen Filmpreisen ausgezeichnet wurde, interessant macht, ist die Art und Weise, wie es Jessica Hausner gelungen ist, das Gesellschaftliche ins Private hineinragen zu lassen. Ihr Film lässt sich unschwer so lesen, dass eine veränderungsunfähige Gesellschaft selbst bessergestellten Mitgliedern die Kraft zum Leben nimmt. Die nette Henriette (Birte Schnöink), die zum Klavier Lieder vom Blümlein am Wegesrand singt, hat zwar Angst vorm Sterben, nachdem Ärzte die Krämpfe und Ohnmachtsanfälle, an denen sie leidet, als „Geschwulst oder Tumor“ diagnostiziert haben. Damit scheint ihr Motiv zum Freitod ein ganz anderes zu sein als das des „am Leben gescheiterten“ Kleist (Christian Friedel).
Dass beide vielleicht doch seelenverwandter sind, wird nicht nur andeutungsvoll ausgesprochen. Man erkennt es auch an vielen gestalterischen Details: An den getrennten Betten, in die Henriette und ihr Ehemann zur Nacht gehen; an dem wie eine große Marionette durch den Haushalt huschenden Dienstmädchen und an den mit dunkelgrünen geometrischen Mustern belegten Tapeten, die die Wohnung der Vogels wie ein Gefängnis wirken lassen. Das Haus der Dichter-Cousine Marie (Sandra Hüller), die lieber leben will, ist dagegen in vitalen Rottönen gehalten, und dazu passt, dass sie sich schließlich mit einem Franzosen verlobt.