Als Premier Xavier Bettel (DP) am Dienstag den Historiker Vincent Artuso dessen Bericht über die Mitverantwortung staatlicher Institutionen bei der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg vorstellen ließ, versprach er: „Ich bin bereit, die Verantwortung, die zu übernehmen ist, auch zu übernehmen.“ Denn „wir waren nicht alle Helden.“ Deshalb müsse man „vorsichtig, aber auch offen und transparent“ an die Geschichte herangehen, um nach all den Jahrzehnten die noch bestehenden „Unklarheiten“ zu beseitigen. Allerdings will die Regierung Unklarheiten bestehen lassen, wenn es um die Frage geht, wer die Schurken in der Heldengeschichte waren. Denn „wir wollen auf niemanden mit dem Finger zeigen“, entschied der Premier.
Vordergründig geht es darum, dass nun auch hierzulande die Geschichte mit einem Ritual moralisiert werden soll, bei dem sich die fernen Nachfahren von Tätern bei den fernen Nachfahren von Opfern entschuldigen. Nach der Weigerung seines Vorgängers François Mitterrrand hatte der französische Präsident Jacques Chirac im Juli 1995 eingeräumt: „Oui, la folie criminelle de l’occupant a été secondée par des Français, par l’État français.“ Während einer Gedenkfeier im September 2012 hatte sich der belgische Premier Elio Di Rupo für die Kollaboration belgischer Behörden bei der Judenverfolgung entschuldigt: „En tant que Premier ministre du gouvernement belge, je présente les excuses de la Belgique à la communauté juive, même si les comportements de l'époque sont inexcusables.“
Eine Woche nach Di Rupos Entschuldigung fragte der im Staatsarchiv beschäftigte Historiker Serge Hoffmann Premier Jean-Claude Juncker in einem im Tageblatt veröffentlichen Brief: „Müsste unser Premierminister nicht dasselbe für Luxemburg tun, da auch in unserem Land die damaligen Luxemburger Autoritäten zuerst mit der deutschen Militärverwaltung und, ab August 1940, mit der deutschen Zivilverwaltung eng zusammenarbeiteten? Die Parallelen zu Belgien sind sehr offensichtlich! In beiden Fällen hatten die jeweiligen Regierungen beim Einmarsch der deutschen Truppen ihr Land verlassen und waren ins Exil geflüchtet. Die politische Verantwortung ihrer jeweiligen Länder hatten sie einer aus Regierungskommissaren bestehenden Verwaltungskommission überlassen. Sowohl in Belgien als auch in Luxemburg kollaborierten diese ‚Ersatzregierungen’ mit den Nazis und unternahmen nichts gegen die Judenverfolgung in ihren jeweiligen Ländern.“
Der LSAP-Abgeordnete Ben Fayot gab Hoffmanns Brief mit einer parlamentarischen Anfrage zusätzliches Gewicht, so dass Premier Jean-Claude Juncker am 30. Januar 2013 antwortete, die Rolle der Luxemburger Behörden und der Verwaltungskommission bei der Judenverfolgung sei noch nicht vollständig geklärt. Doch „je me propose de charger quelques historiens, spécialistes en histoire contemporaine, de porter un regard critique sur la période et les événements en question“. Der politische Druck auf Jean-Claude Juncker stieg zu dem Zeitpunkt täglich. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss über den Geheimdienstskandal hatte gerade seine Arbeit aufgenommen, und Jean-Claude Juncker, dem von allen Seiten vorgeworfen wurde, die illegalen Eskapaden seines Geheimdienstes zu vertuschen, wollte sich nicht auch noch vorwerfen lassen, die Schuldfrage bei der Judendeportation vertuschen zu wollen.
Vielleicht auch deshalb willigte Jean-Claude Juncker sofort ein, als der Historiker Michel Pauly ihm in einem Brief anbot, er solle den Forschungsauftrag an einen unabhängigen Historiker der Universität vergeben. Denn im September 2001 hatte Jean-Claude Juncker noch einen ähnlichen Auftrag an eine Commission spéciale pour l’étude des spoliations des biens juifs au Luxembourg pendant les années de guerre 1940-1945 unter dem Vorsitz von Paul Dostert vergeben, dem von ihm selbst berufenen Direktor des Centre de documentation et de recherche sur la résistance. Und was die Kommission herausfinden durfte, hatte er gleich zwei Monate später vor dem Parlament erklärt: dass der Luxemburger Staat nicht für die Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht verantwortlich gemacht werden könne und das Kriegsentschädigungsgesetz von 1950 eigentlich seine Rolle erfüllt habe. Damals hatte die Kommission erst einmal für eine halbe Million Euro jahrelang Akten des Staatsarchivs säubern lassen, bevor sie 2009 ihren Bericht vorlegte, und seither sind wiederum sechs Jahre vergangen, ohne dass etwas anderes geschehen wäre, als auf das Ableben der letzten, inzwischen mehr als 90-jährigen Kriegsopfer zu warten.
Selbstverständlich geht es nun, anders als in der Frage der jüdischen Vermögen, nicht um scheinbar herrenlose Bankkonten, Schadenersatzklagen und den Ruf des Finanzplatzes, sondern lediglich um moralische statt finanzielle Schuld – das heißt in Wirklichkeit um die Deutungshoheit über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und damit auch über die politische Gegenwart. Denn als der tonangebende Teil der Resistenz- und Zwangsrekrutiertenorganisationen samt Luxemburger Wort 2011 den Kampf gegen ihre damalige Mohammed-Karikatur, gegen Sanja Ivekovics feministisches Kunstwerk Lady Rosa of Luxembourg, verloren hatten, war unübersehbar geworden, dass es niemand mehr für nötig hielt, auf die Anliegen der Kriegsgeneration zu hören, mit denen 1979 noch Parlamentssitze zu gewinnen waren (d'Land, 15.06.01).
Zudem hatte der CSV-Staat jahrzehntelang einseitig die national-konservative Resistenz gefördert und folklorisiert. Doch nach 1989 wurden die Heldenbilder der Widerstandskämpfer „engloutis par la ‚fin du communisme’“, „à une époque d’humanitarisme où il n’y a plus de vaincus mais seulement des victimes“, so der italienische Histortiker Enzo Traverso in Le passé, modes d’emploi. Bevor die Ideale von Widerstand, Antifaschismus, Demokratie und Solidarität in Zeiten des triumphierenden Neoliberalismus nun sogar die internationale Wettbewerbsfähigkeit behindern.
Also begann Jean-Claude Juncker, mit dem Erbe des Zweiten Weltkriegs aufzuräumen: Den als Gegenleistung für die Aufwertung der Zwangsrekrutierten 1967 geschaffenen Conseil national de la résistance löste er auf und ließ seine Überbleibsel in einer Stiftung für Pflegebedürftige und in den neu geschaffenen Archiven der Villa Pauly zusammen mit den letzten Resistenzorganisationen als Conseil directeur du souvenir de la résistance einmotten. Heute setzt die neue liberale Regierung die Rationalisierung fort: Sie kündigte die Zusammenlegung aller Zentren, Museen und Archive zu einem Institut für Zeitgeschichte an, das ein politisches Ideal endgültig als Studienobjekt musealisieren soll.
Während die erste Generation Historiker der Universität sich inzwischen um die Kontrolle über das angekündigte Institut streitet und nach den Memoirenschreibern, den Journalisten und schließlich den Sekundarschulhistorikern die Geschichtsschreibung auf einem neuen akademischen Niveau von vorn beginnen will, kündigt der Regierungschef an, sich im Namen des Staats entschuldigen zu wollen, damit Geschichte nicht verstanden, sondern verziehen wird. Die katholische Philosophin Chantal Delsol kritisiert diesen politischen Ablasshandel in Le pardon historique: „Le repentir et la demande de pardon sont donc des moyens de réhabiliter ou de sauver les croyances en les débarrassant des immoralités qui pourraient les détruire – car aujourd’hui, l’immoralité est rédhibitoire. Il s’agit de solder les dettes pour sauvegarder le château.“
Das zu rettende Schloss ist in diesem Fall nicht nur das großherzogliche Palais, sondern der ganze Staat oder zumindest der Glaube an den Staat als mit väterlicher Güte über allen gesellschaftlichen Klassen und Schichten stehender paternalistischer Institution, die manche Stammtische noch immer „Papa Staat“ nennen. Aus diesem Grund hatte die Regierung vorsichtshalber eine Ausstellung über den Ersten Weltkrieg abgesagt, weil Regierung, Parlament, Großherzogin, Staatsrat, Bistum und Arbed alle Karten auf einen deutschen Sieg gesetzt und diesen Krieg verloren hatten (d’Land, 08.08.14). Im Zweiten Weltkrieg hatten sie versucht, sich klüger anzulegen, und die Rollen aufgeteilt: Parlament, Staatsrat, Bistum und der Arbed-Generaldirektor setzten auf einen deutschen Sieg und boten den Nazis 1940 mit der Verwaltungskommission unter Albert Wehrer eine kleine lokale Vichy-Regierung zur Verteidigung politischer und ökonomischer Partikularinteressen an. Gleichzeitig setzten die Vorkriegsregierung, die Großherzogin und der Arbed-Präsident im Exil auf den Sieg der Alliierten. So war immer einer auf der Gewinnerseite.
Um ihren guten Willen zu zeigen, zögerte die Verwaltungskommission nicht einmal, neben Antifaschisten der Vorkriegszeit die hierzulande lebenden Juden zu opfern. Und wenn Vincent Artuso die frühen Sympathien der damaligen Polizeiführung für das neue autoritäre Regime beschreibt, denkt man unweigerlich an ihre Nachfolger, die im Bommeleeërten-Prozess aufmarschieren mussten. Aber den Nazis war das trotzdem alles unnötige Kleinstaaterei in der Neuordnung ihres großen Europas.
Nun hilft Vincent Artuso mit seinem Bericht, die Schuld zu begleichen, um das Schloss zu retten: Er wäscht die nach der Befreiung diskreditierte Exilregierung weiß, die sich auf der Seite der Sieger wiederfand, und wirft der gescheiterten Kollaborationsregierung klerikalen Antisemitismus vor. Dankbar kündigte Xavier Bettel am Dienstag an, den Bericht in seiner Regierung zu diskutieren und an das Parlament weiterzuleiten, damit die Kammer eine beratende Debatte über die Verantwortung „der Institutionen, der Kammer, des Staatsrats…“ bei der Judenverfolgung organisieren kann. Danach will die Regierung das, was sie dem griechischen Staat nicht zugesteht, für den Luxemburger Staat, das Parlament und den Staatsrat beanspruchen: einen Schuldenerlass.