Madame Reiter, gutbürgerliche Beamtengattin, räumt das Büro auf und klagt: „Nees eng Ministerkrisis; dat gëtt bal wéi d’Influenza, wann ee mengt, si wir fort, dann ass s’och scho nammel do.“ Herr Reiter legt die Zeitung zur Seite und überlegt: „Ech si jo e gudde Fonktionär, fir wat soll ech kee gudde Minister ginn? Si hu mer gëschtenowend nach alleguert am Café gesot, dat wär esou eppes fer mech, zum Beispill den Département vun der Moralité publique. [...] Ech sinn derfir geschaf, d’Politik ass eppes Schéins, a speziell deen Département vun der Moralité publique. Do wir Muenches nach ze maachen. Ass dann eppes méi vernoléissegt, läit dann eppes méi brooch do, wéi grad ons Moral? ’t ass dach wierklech e Skandal, Anna, wéi grad an onsem klenge Land, dat deen aneren, déi duerch d’Kultur schon erofkomm sinn, e gutt Beispill soll ginn, grad déi besser Leit sech opféiren.“ (René Leclère, Bal Minister, 1916).
Auch die DP, die LSAP und die Grünen hatten sich gefragt, weshalb sie keine guten Minister abgeben sollten. Insbesondere da in Sachen politische Moral noch so manches zu tun wäre. Wie vernachlässigt die Moral unter der CSV/LSAP-Koalition wurde, schienen die Klüngel mit Immobilienunternehmern um die Fußball-Mall von Wickringen-Livingen gezeigt zu haben, die undurchsichtigen Geschäfte mit katarischen Aktionären der Cargolux, die Komplizität mit hohen Polizieoffizieren, um die Überführung der Bommeleeërten zu verhindern, und schließlich die gescheiterte Privatisierung des außer Rand und Band geratenen Geheimdienstes. Kein Wunder, dass DP, LSAP und Grüne im Wahlkampf das „Département vun der Moralité publique“ beanspruchten.
„Für uns muss eine Regierung transparent und vorbildlich handeln“, versprach das Wahlprogramm der DP. Denn die vielerlei Affären „haben sehr viel Vertrauen in die Politik zerstört. Sie haben den Wunsch nach Transparenz, nach gleichen Regeln für alle und hohen deontologischen Ansprüchen deutlich gemacht. Die Institutionen bzw. die ihnen angeschlossenen Organe sind diesem Wunsch bisher nicht oder nur unzureichend nachgekommen. Um das Vertrauen in die politischen Organe weiter zu stärken, wollen wir für alle Exekutivfunktionen (Regierung, Gemeinden,…) im Land sowie für das Parlament einen Deontologiekodex einführen, der für Politiker und Beamte gelten soll.“
Nach dem Sturz seiner Regierung beanspruchte der Spitzenkandidat der LSAP besonders lautstark das Département vun der Moralité publique. Er versprach einen „Neuanfang“, meinte: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger neues Vertrauen in die Institutionen und Politik schöpfen“, das sie durch den fahrlässigen Umgang der CSV mit der Macht verloren hätten. Er stellte sich als der neue Saubermann dar, der, wie beim Frühjahrsputz, „die Fenster weit aufreißen“ und den jahrzehntealten Filz des CSV-Staats beenden wollte. Etienne Schneider, für den Herrn Reiters Traum vom Aufstieg vom hohen Beamten zum Minister in Erfüllung gegangen war, hatte es vor allem auf die Regierungsmitglieder abgesehen, deren Zahl, Mandatsdauer und Kompetenzen er wohl nicht nur aus Sorge um Effizienz und Kosten verringern wollte, sondern wohl auch, um das in der Öffentlichkeit weit verbreitete liberale Vorurteil zu bedienen, dass der Staat nicht die Lösung, sondern das Problem sei.
So schlug der bis dahin eher als Hedonist denn als Moralist auftretende Etienne Schneider die katholische Rechte, für die Moral schon immer ein rechtes Surrogat für Demokratie war, ein wenig mit ihren eigenen Waffen. Dann machte er eine Studienkollegin, für die als RTL-Journalistin einst Jean-Claude Juncker ein gutes Wort eingelegt hatte, zur Sozialistin und zu seiner Staatssekretärin. Zufrieden fuhr diese daraufhin mit dem Dienstwagen in den Schiurlaub.
Doch die Nahrungskette der Moralapostel ist eine lange, hinter jedem von ihnen lauert ein noch gierigerer. Deshalb entrüstete sich zuerst die kleine, schrille Stimme des Skandalblatts Luxemburg Privat: „Françine (sic) Closener: Der Skandal. Erster Fehltritt in der neuen Regierung.“ Dankbar griff der Volksvertreter Gast Gibéryen von der müde gewordenen Saubermännerpartei ADR die Nachricht auf. Mittels einer parlamentarischen Anfrage über die Umstände und Kosten der Urlaubsfahrt machte er sie für den Rest der Presse zitierfähig. Diese Anfrage griffen wiederum dankbar die ehemaligen Kollegen von RTL auf, wo die Staatssekretärin jahrelang als Moralapostelin in entrüstenden und belehrenden Kommentaren Ministern und Parlamentariern die Leviten gelesen hatte.
Der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Noch nie gaben so viele Leute bei RTL.lu einen Kommentar ab seit der Nachricht über den Tod des Schauspielers Thierry van Werveke, freute sich der Sender. Mehr als 1 200 Vertreter der lieben Zivilgesellschaft entrüsteten sich, weil sie auch einmal schnell der LSAP beitreten wollten, um Staatssekretäre zu werden und mit einem Regierungswagen in den Wintersport zu fahren. „Gitt net perséinlech, stellt keng falsch Behaaptungen op a probéiert w.e.g. och ëmmer, d’Proportiounen am A ze behalen“, flehte RTL. „Hei soll keng Campagne fir oder géint ee gemaach ginn!“
Die Entrüstung war um so größer, als die Staatssekretärin sich in einem RTL-Interview, für das sie sich inzwischen entschuldigen musste, keines Fehlers bewusst war: „Das hier ist nämlich keine Affäre, das ist gar nichts. Ich bin doch nicht so blöd, dass ich mich nicht im Voraus erkundigt hätte, wo und wann ich diesen Dienstwagen benutzen darf. Im Luxemburger Deontologiekodex vom 1. März 2013 steht ganz genau, dass Regierungsmitglieder dieses Auto auch privat benutzen dürfen.“ Schnippisch meinte sie: „Es ist ja auch nicht so, als ob ich in die Regierung hätte kommen müssen, um in den Genuss eines Autos zu kommen. Wir haben auch ein ganz gutes Auto, mit dem wir auch hätten fahren können. Wir haben das nicht getan, weil wir in die Berge gefahren sind, und dieses hier verfügt über Allradantrieb. Im Nachhinein sage ich mir, das war eine ganz gute Sache. Denn es lag Schnee, und auf den anderen Wagen hätte man noch Schneeketten montieren müssen undsoweiter. Ich sehe eigentlich nicht das Problem.“
Das von ihr übersehene Problem war selbstverständlich, dass DP, LSAP und Grüne im Koalitionsabkommen abgemacht haben: „Le Gouvernement présentera un projet de loi sur les droits et les devoirs des membres du Gouvernement.“ Denn, so Premier Xavier Bettel am 10. Dezember in seiner Regierungseklärung, „ronderëm déi Geheimdengschtaffär, awer net nëmmen, ass dat méi oder wéineger diffust Gefill bei de Leit entstan, dass et Leit am Stat kéint ginn, déi méi Rechter wéi anerer hätten. Dat ass e ganzt geféierlecht Gefill. A mir mussen do kloer Conclusiounen zéien: Dofir wëlle mir niewent klore Regelen an Prozeduren och Deontologiekodexen op alle Niveauë vun der ëffentlecher Verwaltung a Gemengen aféieren, fir dass et nach méi kloer ass, wat d’Rechter an d’Flichte vun deem engen oder anere Verantwortlechen am Stat sinn.“
Weil es der Staatssekretärin offenbar an politischem Gespür mangelt, beanspruchte sie Regeln, welche ihre Regierung gerade für unzulänglich erklärt hatte. Genauso gut hätte sie sich auf das Luxemburger Wort berufen können, das am 6. Dezember über eine der ersten Kabinettsitzungen berichtet hatte: „Die drei Staatssekretäre nahmen gestern übrigens nicht an der Kabinettsitzung teil, bei der unter anderem auch beschlossen wurde, den geplanten Deontologiekodex für die Regierungsmitglieder, den Schwarz-Rot vorgelegt hatte, zu überarbeiten: ‚Der Entwurf geht nicht weit genug, wir wollen ein echtes Ministergesetz’, so der Premier.“
Die unbeschwerte Urlaubsfahrt der Staatssekretärin mit dem kostenlosen BMW ist der Regierung ein um so ungelegeneres Symbol, als sie dabei ist, die Mehrwertsteuer auf BMW sowie anderen Waren zu erhöhen und das Wahlvolk auf Verzicht und Opfer einzustimmen, damit es sich einen ausgeglichenen Staatshaushalt abspart.
Um der Kritik die Spitze zu brechen, kündigte Premier Xavier Bettel (DP) am Dienstag an, dass der grüne Justizminister Felix Braz „nicht binnen Monaten, sondern binnen Wochen“ den Entwurf eines Ministergesetzes vorlegen werde. Es soll nicht nur die Kompetenzen und Verantwortungen von Regierungsmitgliedern während und nach ihrer Amtszeit definieren und vielleicht auch die Funktionsweise des Kabinetts festlegen, sondern wohl auch die weitere Benutzung von Dienstfahrzeugen für Urlaubsfahrten verbieten.
Es ist nicht das erste Mal, dass die neue Koalition an den selbst gesteckten moralischen Ansprüchen scheitert. Im LSAP-Wahlprogramm heißt es: „In diesem Zusammenhang spricht sich die LSAP für eine Herabsetzung der Abgeordnetenzahl und eine rationelle, zielorientierte Aufteilung der politischen Kompetenzbereiche auf Regierungsebene aus. Die LSAP tritt dafür ein, dass die Zahl der Regierungsmitglieder begrenzt und per Verfassungsänderung festgelegt wird, um zu verhindern, dass sie zum Spielball parteipolitischer Erwägungen werden.“ Doch dann überraschten DP, LSAP und Grüne mit der größten Regierung in der Geschichte des Großherzogtums. Für die Öffentlichkeit war klar, dass dieser „Spielball parteipolitischer Erwägungen“ den vielfältigen Ansprüchen auf Regierungsposten in den drei Parteien und nicht zuletzt bei den Grünen gerecht werden musste. Auch das Versprechen nach umfassender Transparenz schien gleich einen Dämpfer erfahren zu haben, als die drei Parteien ein Koalitionsabkommen mit einer Regierungserklärung verwechselten und sich zuerst weigerten, das zu früh unterzeichnete Koalitionsabkommen noch vor der Regierungserklärung zu veröffentlichen. Von ihren eigenen hehren Prinzipien und ihren eigenen Parteitagsdelegierten getrieben, musste sie schließlich ihren Beschluss rückgängig machen.
Doch wer versucht, Politik mit der Moral zu machen, läuft Gefahr, darin umzukommen. Folglich ist der Lärm um den Schiurlaub der Staatssekretärin bloß die verdiente Strafe der Koalition für das, was Gilbert Ryle einen Kategorienfehler nannte.