„Niemand kümmert sich um uns“, klagt Abdullah Suban. Der 43-jährige Bauer lebt immer noch in einem Flüchtlingslager im pakistanischen Sukkur neben einer stark befahrenen Ausfallstraße am Flughafen. Der freundliche Mann in grauer Salwar-Kameez, der traditionellen pakistanischen Kleidung, hat ein buntes Handtuch über die linke Schulter geschlungen. Weil seine kleine Parzelle Land etwa 50 Kilometer von Sukkur noch immer unter Wasser steht, ist auch Abdullah mit seiner Großfamilie noch hier. Er und die anderen Männer im Lager schlagen sich als Tagelöhner in der Stadt durch. Essen wird keines mehr verteilt. „Gott ernährt uns“, scherzt Abdullah. Es sei hart, „aber was können wir tun?“
Mehr als 100 Tage nach Beginn der Jahrhundertflut leben immer noch um die 400 Familien im Camp, sagen die Bewohner. Manche warten auf die zugesagte Entschädigungszahlung der Regierung, andere haben kein Geld, um in ihre Dörfer zurückzukehren, manche wollen schlicht in der Stadt bleiben und wieder andere kommen aus Gegenden, die nach wie vor überschwemmt sind.
Im Juli setzte ein ungewöhnlich heftiger Monsun-Regen im Nord-Westen Pakistans ein und begann gan-ze Landstriche zu überfluten. Die Wassermassen drangen immer weiter Richtung nach Süden vor, überschwemmten auf dem Weg zum Meer Ackerland und Dörfer. Das Hochwasser bedeckte eine Fläche von der Größe Englands. Es waren die schwersten Überschwemmungen in der Region seit fast hundert Jahren. Um die 1 700 Menschen kamen ums Leben, rund 20 Millionen waren vom Hochwasser betroffen. Auch mehr als drei Monate nach Katastrophenbeginn sind nach Angaben der Vereinten Nationen über sieben Millionen Menschen im Land weiter auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.
Die Provinzstadt Sukkur am westlichen Ufer des Indus-Fluss ist von den Wassermassen verschont geblieben. Doch weil die Deiche und Dämme in der Umgebung brachen, retteten sich im August eine halbe Million Menschen in die Stadt. Überall entstanden Camps und Notunterkünfte. „Die Flut riss alles mit sich, die gesamte Ernte, die Vorräte, die Tiere“, erzählt Inamullah Dharejo, der Verwaltungsleiter des Distrikts. „Wir hatten über 200 Notlager in Sukkur. Um die 10 000 unterernährte und dehydrierte Kinder. Ich hatte Angst, dass 20 Prozent von ihnen es nicht überleben würden.“ Die Regierung habe aber gut auf die Krise reagiert. Inzwischen seien praktisch alle Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. „Nur zwei bis drei Prozent“, so schätzt Inamullah Dharejo, seien noch im Ort geblieben. „Die Leute wissen doch selbst am besten, wann sie zurückkehren können.“
„Was sollen sie denn machen, wenn sie zurückkehren?“, fragt Anwar Mahar, ein Lehrer, der sich seit drei Monaten im Auftrag der Hilfsorganisation Save the Children um die Kinder im Lager am Flughafen kümmert. Die Flüchtlinge seien doch gar nicht auf den bald einbrechenden Winter vorbereitet. Sie sollten noch ein paar Monate bleiben, meint Anwar.
Fawad Hussein von der UN-Nothilfekoordination hat ähnliche Bedenken. In der Provinz Sindh seien immer noch weite Teile überflutet, die Felder können nicht bestellt werden und die Häuser der Flüchtlinge seien noch nicht wiederhergerichtet, sagt er. Die Rückkehrer kämen so von einer Notunterkunft in die nächste. Und bald beginne die kalte Jahreszeit: „Der Winter kommt, und vor allem im Norden der Provinz ist Wintertauglichkeit ein großes Problem. Die Temperaturen werden so stark fallen, dass die Menschen nur schwer in Notlagern leben und ohne Notlager kaum überleben können.“
Auch das Lager nahe dem Flughafen von Sukkur ist nicht winterfest. Die Hilfsorganisation aus Karachi, die das Camp früher betrieb, hat sich zurückgezogen. Geblieben sind ein paar Lehrer, die die Kinder unterrichten. Doch auch sie werden in den nächsten Wochen gehen. Die Stadtverwaltung schickt Wassertanks und manchmal kommen noch Ärz-te vorbei, erzählen die Bewohner. „Doch was nützt das schon, wenn wir nichts für unseren Magen haben“, sagt ein Lagerbewohner. Wer auf dem nahen Gemüsemarkt Arbeit findet, verdient 100 Rupien, etwa einen Euro, am Tag. Manche verkaufen ihren Schmuck, andere bekommen etwas von Verwandten zugesteckt, um zu überleben.
Viele warten immer noch auf das versprochene Geld der Regierung, die jeder Familie 20 000 Rupien (umgerechnet etwa 170 Euro) zugesagt hat. Das ist kein hoher Betrag, wenn eine ganze Familie damit versorgt werden muss, doch in dem bettelarmen Land ist der Großteil der Flüchtlinge darauf angewiesen. Viele scheitern jedoch an den bürokratischen Hürden, denn wer das Geld will, muss zunächst eine so genannte Watan-Karte beantragen, mit der man dann bei der Bank die Entschädigung ausgezahlt bekommt. „Es gibt einen Streit darüber, wo die Karte beantragt werden muss“, sagt Sallamullah, ein Mitte 20-Jähriger, der ebenfalls seit vier Monaten im Lager am Flughafen wohnt. Man habe ihnen gesagt, die Fluthilfe der Regierung gebe es nur, wenn sie zurückkehrten. Doch manche hätten das Geld weder in Sukkur noch in ihrem Heimatort erhalten.
„Meine Karte ist nicht aktiviert“, klagt Landarbeiter Pandhi Khan. Ständig telefoniere er deshalb mit den Behörden, ohne Erfolg. „Sie versprechen mir jedes Mal, die Karte zu aktivieren. Ich gebe allein 100 Rupien am Tag für die Anrufe aus.“ Pandhi Khan hat seine Karte von der Nadra-Behörde in Sukkur erhalten. Die Meldebehörde Pakistans stellt die Karten allerdings nur aus, wenn die Leute bereits registriert sind. Doch ein Großteil der Flüchtlinge hat weder Personalausweis noch Geburtsurkunde. Viele wissen nicht einmal, wann sie geboren sind. „Es ist ein langwieriger Prozess“, sagt Fawad Hussein von der UN-Nothilfekoordination. Oft nehme die Bank noch Extra-Gebühren für die Auszahlung. Es gebe Korruption und lange Schlangen vor den Banken. In manchen Fällen habe auch der Landbesitzer die Entschädigung für seine Arbeiter kassiert.
Khalid Khan, der Distriktchef der Nadra-Behörde in Sukkur, gesteht kleinere Probleme mit der Karte ein. „Die Polizei hat einige Leute festgenommen“, die Missbrauch betrieben hätten. Doch die Behörde habe inzwischen 80 Prozent der Betroffenen mit Watan-Karten ausgestattet. Die Karten würden innerhalb von 48 Stunden aktiviert, die durchschnittliche Antragszeit liege bei 13 Minuten. Manche Flutopfer hätten sich von dem Geld der Regierung allerdings gleich Motorräder und Mobiltelefone gekauft. Die Anträge für Watan-Karten würden überall angenommen, egal ob auf dem Lande oder in der Stadt Sukkur selbst. Die Information, wonach es die Karten nur in der Heimat der Flüchtlinge gebe, stamme meist von den Distriktverwaltungen. „Sie wollten die Schulen, in den viele Flüchtlinge untergebracht waren, wieder leer haben“, vermutet Khan. Auch der Beamte hält 20 000 Rupien Entschädigung für zu wenig. „Als Nation brauchen wir mehr Mittel.“
Hundert Tage nach Beginn der Katastrophe ist die Lage in den betroffenen Gebieten schwieriger geworden als in der Zeit der akuten Krise. Die Hilfswerke und die Regierung müssen sich weiter um die Flüchtlinge kümmern, die immer noch in den Notcamps leben. Doch auch die vielen Menschen, die in ihre Dörfer und Siedlungen zurückgekehrt sind, brauchen Unterstützung. Vor allem, so bemängeln Hilfsorganisationen, fehlt eine Wiederaufbaustrategie.
„Die Situation ist komplexer geworden“, sagt Fawad Hussein von der UN. Im Moment seien immer noch 7,3 Millionen Menschen von Nahrungsmittelhilfe abhängig. Gerade diejenigen, die zurückgekehrt sind, seien nun oft schwerer zu versorgen. „Es gibt ein großes logistisches Problem“. Dort, wo das Wasser noch immer nicht abgeflossen sei, hätten die Einwohner auf höher gelegenen Stellen Lager errichtet. Geld für ein langfristiges Wiederaufbauprogramm, wie Pakistan es nun brauche, sei bislang unzureichend vorhanden. Bisher habe die pakistanische Regierung keine langfristigen Pläne erstellt, um die Überflutungsgebiete wieder aufzubauen.
Der langfristige Schaden der Katastrophe ist immens: Mindestens zwei Ernten sind verloren, Vorräte vernichtet, Straßen, Häuser, Stromversorgung und Bewässerungskanäle zerstört. „Die Rückkehrer versuchen, neu auszusäen“, sagt Hussein. Doch der Boden sei vielfach noch zu nass und gerade Unterstützung für die Landwirtschaft sei kaum vorhanden. Nothilfe und Lebensmittelrationen allein seien keine Lösung für die Probleme der Millionen Flutopfer.