Man dürfe die Iren jetzt „nicht in eine Ecke stellen“, mahnte Premierminister Jean-Claude Juncker wenige Tage nach dem irischen Nein zum Lissabon-Vertrag. Die Warnung war an die Adresse der großen Nachbarn Deutschland und Frankreich gerichtet. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte zuvor vorgeschlagen, Irland vom europäischen Integrationsprozess abzukoppeln, hatte dann aber wieder zurückgerudert.
Das von Juncker wenig dezent als „arrogant“ bezeichnete Verhalten kennen aufmerksame Beobachter des Integrationsprozesses schon: Im Frühjahr 2005, kurz vor den Referenden in Frankreich und den Niederlanden, hatte kein Anderer als Jean-Claude Juncker selbst damit gedroht, sollten die französischen und niederländischen Wähler mit Nein stimmen, sie ein weiteres Mal an die Urne zu schicken. Es war Juncker, der damals die Idee vom „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ wiederbelebte.
Beim Krisentreffen der 27 EU-Außenminister am Montag auf dem Kirchberg wollte man auch davon lieber nicht reden, jedenfalls nicht laut. Die offizielle Sprachregelung lautete zunächst einmal: bloß nicht den Eindruck erwecken, man wolle die Iren zu irgendetwas zwingen oder gar das Votum ignorieren. Die Analyse der Wahlresultate war angesagt, und sogar ein wenig Selbstkritik. Man habe ein Vermittlungsproblem, räumte Europaminister Nicolas Schmit gegenüber RTL-Radio ein und nahm dabei auch die nationalen Parlamente in die Pflicht. Unvergessen sind die Debatten in der Chamber, bei denen ein sichtlich angestrengter Ben Fayot und andere Abgeordnete sich abmühten, den Europa-Skeptikern im eigenen Land Paroli zu bieten. Wie wenig die EU in den Köpfen ist, lässt sich am kürzlich veröffentlichten Politbarometer ablesen: Europaminister Nicolas Schmit kannten 16 Prozent der Befragten nicht, Ende 2006 waren es noch 40 Prozent.
Über die anderen Probleme Europas sprachen Juncker, Asselborn und Co. nicht – und die liegen tiefer als eine schlechte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Mit dem viel zitierten „Demokratiedefizit“ meinen Kritiker weniger die fehlende Aufklärung der rund 500 Millionen EU-Bürger, sondern deren unzureichenden Möglichkeiten zur Mitbestimmung. Nach dem neuen Vertrag würde das Europäische Parlament in etwa doppelt so vielen Gesetzesbereichen als bisher mitentscheiden, von einer echten Demokratie ist die EU allerdings nach wie vor Lichtjahre entfernt. In 112 Politikbereichen, darunter die Außen- und Sicherheitspolitik, werden die Parlamentarier lediglich angehört. Sie können weder eigene Gesetze zur Abstimmung vorlegen, noch haben sie Einfluss auf die Zusammensetzung des Rats – dabei sind sie die gewählten Vertreter.
Das neue Abstimmungsverfahren, bei denen die Stimmen der bevölkerungsstärkeren Staaten stärker gewichtet werden sollen, mag mehr überstaatliche Demokratie und Effizienz bei der Koordination gemeinsamer Politiken von 27 Staaten bringen, wirft aber zugleich äußerst komplizierte Fragen über die nationale Souveränität auf. Statt diese offen zu diskutieren, wurde der neue Vertrag Ende Mai im Eiltempo durchs Luxemburger Parlament durchgeboxt. Man wollte sich eine weitere Blamage ersparen.
In Irland hatten Regierung und Parteien ähnlich aufs Gas gedrückt – und bekamen dafür die Quittung. Einmal mehr wurde übersehen, dass hinter den Voten auch, aber eben nicht nur nationalistische Scharfmacher standen, sondern Menschen, die um ihre Zukunft bangen und die zum Teil zu den Verlieren der von der EU forcierten Globalisierung zählen: Arbeiter, Kleinbauern, einfache Angestellte. So spielte nicht zuletzt die Angst vor dem Verlust des eigenen, ohnehin begrenzten Einflusses auf Entscheidungen in Brüssel eine wichtige Rolle beim Nein.
Es ist allerdings eine Ironie, dass sich die Iren mit ihrem Votum eher für die schlechtere Option entschieden: Sollte der Nizza-Vertrag seine Gültigkeit auch nach dem 1. Januar 2009 behalten, wird die EU-Kommission mit derzeit 27 Kommissaren ab 2009 verkleinert, erinnerte der „Spezialist für kleine Staaten“, Jean-Claude Juncker. Dann haben kleine Staaten erst recht das Nachsehen. Darum mahnen Außenminister Asselborn und er, trotz aller proklamierter Gelassenheit und Rücksichtnahme, im Ministerrat zur Eile, um das Vertragswerk noch vor den Europawahlen durchzubringen. Nach der Ratifizierung durch das Oberhaus des britischen Parlaments am Mittwoch gibt es zumindest einen Wackelkandidat weniger.
Eine Zusatzerklärung soll helfen, damit die Iren, zu guter Letzt, doch auf den rechten Weg finden. Darin würde sich die EU verpflichten, so der Vorschlag Asselborns, dass sie sich „beim Thema Abtreibung nicht einmischt, die Neutralität Irlands respektiert wird, dass in Fiskalfragen die Einstimmigkeit bestehen wird“. Zumindest die beiden letzten Punkte dürften die meisten Luxemburger Politiker mit zwei Händen unterschreiben können. In der Libération vom Donnerstag mochte Jean-Claude Juncker ein Kerneuropa nun doch nicht länger ausschließen. Da ist es wieder, das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche, wobei sich fragen lässt, worin für die Iren das Zuckerbrot besteht. Es ist dieselbe Parole von vor dem Referendum: Wir marschieren weiter. Der Vertrag bleibt, wie er ist.