Im Schatten der Finanz- und Wirtschaftskrise soll in den kommenden Wochen an allen Fronten die europäische Integration wieder ein Stück vorangetrieben oder wenigstens konsolidiert werden. Nicht mit Pauken und Trompeten, sondern mit Hauen und Stechen und im nunmehr dritten Anlauf.
Diese Woche einigten sich in einem Wettlauf gegen die Zeit mehrere Parteien in Deutschland auf neue Regeln, nach denen das Abkommen von Lissabon noch vor den Wahlen am 27. September in nationales Recht übernommen werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hatte die im Mai vergangenen Jahres erfolgte Ratifizierung beanstandet und ein größeres Mitspracherecht des nationalen Parlaments und der Bundesländer verlangt. Der Preis dafür ist auch ein Stück Renationalisierung der europäischen Politik durch den mächtigsten Mitgliedsstaat, der die Union in den dritten Balkankrieg hineingezogen, einseitige Maastricht-Kriterien diktiert und eine gemeinsame Bekämpfung der Finanzkrise verhindert hatte.
Am 2. Oktober sollen die irischen Wähler dann ihre Meinung vom 12. Juni 2008 korrigieren und dem Vertrag von Lissabon zustimmen, der bereits eine Neuauflage des gescheiterten Verfassungsvertrags ist. Die Irland besonders hart treffende Wirtschaftskrise und die Ende vergangenen Jahres erhaltenen Zusicherungen, einen Kommissar und nationale Eigenarten, wie ein sehr strenges Abtreibungsverbot und eine sehr freizügige Besteuerung, behalten zu können, soll nun in einem zweiten Anlauf eine knappe Mehrheit für den Vertrag produzieren. Auf die Gefahr hin, dass die Demokratie als „Scholastik“ und „eng Seibar vu Gomm‘lastik“ angesehen wirdBlieben noch zwei Altlasten des Sieges im Kalten Krieg: Ähnlich wie beim Euthanasiegesetz hierzulande, haben sich auch der polnische Präsident Lech Kaczynski und der tschechische Präsident Vaclav Klaus bisher geweigert, die entsprechenden Gesetze zur Ratifizierung des Lissabonner Vertrags durch ihre Unterschrift in Kraft zu setzen. Nach einem Ja der Iren sollen die Angst vor der Isolation in diesen schwierigen Zeiten und sanfter diplomatischer Druck dann rasch die beiden sehr rechten Staatsoberhäupter zum Einlenken bewegen, so dass der Vertrag von Lissabon im Idealfall am 1. November in Kraft treten könnte.
Aber der Idealfall tritt in so komplexen Konstrukten wie der europäischen Politik nur selten ein. Das weiß auch Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Er muss, sobald das Europaparlament Mitte nächsten Monats wieder zusammentritt, weiter verzweifelt um eine Verlängerung seines Mandats ringen, um nach dem 1. November vielleicht eine Kommission entsprechend dem Lissabonner Vertrag aufstellen zu können. Aber auch das ist unsicher. Denn das Interesse an einem sowohl gegenüber der Wirtschaft wie den Institutionen sehr liberalen Kommisionspräsidenten hat in der Krise vorübergehend abgenommen.
Und dann müssten in den kommenden Monaten auch noch die vom Lissabonner Vertrag neu geschaffenen Posten besetzt werden, wie derjenige des Präsidenten des Europäischen Rats und des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik. Auch wenn ihr Stern spätestens gesunken ist, seit sie zusammen mit dem Großherzogtum auf einer grauen Liste der Steueroasen gelandet waren, gibt es auch Luxemburger Anwärter für den einen oder anderen dieser Posten. Und die Stunde der Luxemburger Kandidaten schlägt bekanntlich, wenn dringend eine Notlösung gefunden werden muss, weil der europapolitische Idealfall wieder einmal nicht eingetreten ist.