„Die Sprache ist eine fürsorgliche Amme und weiß zu stillen“, heißt es in Ursprung von Nico Helminger. Helminger ist ein Sprachvirtuose, der seinen Gedanken freien Lauf lässt. Der zulässt, wenn die Sprache sich verläuft, verheddert, Umwege sucht, um das Ziel zu finden. Der die Sprache sich selbst überlässt, dabei Konnotatio-nen beschwört, verleugnet, nahelegt oder versteckt. In dem gleichnamigen Projekt Ursprung, das er gemeinsam mit dem deutschen Künstler Bodo Korsig für den Luxemburger Kunstort Espace MediArt schuf, spiegelt sich Helmingers Sprachgewalt in den filigranen Monotypien Korsigs. In manchen der Werke Korsigs glaubt man den Gedanken Helmingers sofort zu erkennen, wenn jedes Ei Ort der Begegnung ist oder Wege Verästelungen von Zehen sind. Doch beim zweiten Blick, beim genauen Draufschauen erschließen sich die Widersprüche, das Kontradiktorische der Begegnungen beider Künstler. Es beginnt dann die Auseinandersetzung mit dem Gesagten und dem Gezeichneten. Die Suche nach Übereinstimmung, die Erfahrung des Wiedererkennens, das Manifestieren der Widersprüche.
Wer beim ersten Durchblättern an der „Sauklaue“ Helmingers verzweifelt, sei darauf hingewiesen, dass die Aphorismen am Ende des Buchs noch einmal feinsäuberlich abgedruckt sind. Doch die Entzifferung der Chiffren in Bild und Text sind der ästhetische Moment in Ursprung und die Begegnung mit beiden Künstlern. Nico Helminger, 1953 in Differdingen geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaften in Luxemburg, Saarbrücken, Wien und Berlin. Er lebte bis 1999 zunächst als Lehrer, dann als freier Schriftsteller in Paris, seitdem wieder in Luxemburg. Er publiziert in Luxemburgisch und Deutsch. Bodo Korsig, 1962 in Zwickau geboren, thematisiert in seiner Kunst menschliche Verhaltensmuster unter Extrembedingungen. Seine Vita belegt sein internationales Renommee; dabei tritt immer wieder die Buchkunst hervor – etwa in gemeinsamen Projekten mit Paul Auster aus New York, Akira Tatehata aus Tokio oder Zao Zhang aus Peking. Beide Künstler denken sich weit zurück im Apfelholz, wie Helminger schreibt, in den Steinwuchs der Begegnung zweier Künstler, die Sprache und Bild vereinen zu einer Beziehung zweier Menschen, die mehr ausdrücken, als Worte vermögen und Bilder zeigen. Jedes Wort ist dabei ein geformtes Andenken, jede Monotypie eine förmliche Antwort.
Das Buch Ursprung ist der Katalog zur Ausstellung, die im vergangenen Herbst im Espace MediArt zu sehen war. Es vereint die Reproduktio-nen von 34 Monotypien Bodo Korsigs mit den Gedankensplittern Nico Helmingers.
Bei Michel Clees sind es keine Gedankenfetzen, keine Aphorismen, sondern ist es die Geschichte von Franz Merkel aus Tübingen, die er aufzeichnete. Illustriert wird das Leben Merkels von Tanja Frank in Sterbehäusle. Den Titel trägt das Buch nach einem Gebäude beim Botanischen Garten in Tübingen, das zunächst als Infektionsstation diente, später dann eine Krebsbaracke für Patienten im finalen Stadium war, also eine der allerersten „stummen Palliativstationen“, in die auch der Lebens- und Leidensweg Merkels führt.
Sterbehäusle ist ein Kreuzweg. 14 Stationen. Bei denen Franz Merkel in die Demenz abgleitet, sich aus der gelebten in die erlebte Welt verabschiedet und selbst durch die überbordende Liebe einer leidenschaftlichen Frau nicht gerettet werden kann. Dabei erzählt Clees die neutestamentarische Leidens- und Heilsgeschichte nach, ohne diese zu parodieren oder der Lächerlichkeit preiszugeben. Um es mit seinen – oder Franz Merkels – Worten zu sagen: Er legt das Erdachte zur Fuge zurecht und konnte nicht mehr von dem gewählten Thema ablassen. So wurde Sterbehäusle ein gelungenes Werk, das eine vordergründig skurrile Geschickte mit zarten, unaufdringlichen Illustrationen Franks vereint. Die große Kunst ist dabei, dass die grafischen Einfälle der Geschichte den Raum lassen, den sie braucht, und nicht in Konkurrenz zu dieser treten. Etwa dann, wenn die bewusste Sprachlosigkeit Michel Clees’ ihre Entsprechung in illustrierter Schlichtheit findet. Tanja Frank erliegt nicht der Versuchung, das, was Michel Clees nicht schreiben oder erzählen wollte, gestalterisch zu interpretieren oder weiterzuspinnen.
Inwieweit Autobiografisches in der Vita von Franz Merkel mitschwingt, lässt Clees offen. Dabei legen die Biografien – sowohl die Hauptfigur der Erzählung als auch der Autor sind Arzt – Parallelen nahe. Clees, Jahrgang 1963, ist vor allen Dingen als Theaterautor bekannt. So veröffentlichte er 1986 mit Die Fremdlingin ein Schauspiel über das Leben Georg Trakls und mit Solosonate für einen Handschlag ein Stück über die letzten Lebensjahre Béla Bartoks. Bei den Éditions Ultimomondo erschien zuletzt die CD Dein Herz aus Eis macht mich ganz heiß, die Clees gemeinsam mit Jitz Jeitz, René Nuss und Guy Rewenig veröffentlichte. Tanja Frank studierte in Brüssel und London Grafik. Sie arbeitet als Kunstschaffende in Luxemburg, unter anderem als Reporterin bei RTL Lëtzebuerg und wirkte als Designerin und Animationsassistentin bei verschiedenen Theater- und Filmproduktionen mit. Bekannt ist sie auch als Moderatorin der Sendung Odds and Ends bei Radio Ara in Luxemburg.
Warum das Leben und Wirken von Franz Merkel ausgerechnet nach Tübingen verlegt wurde, bleibt jedoch ein Geheimnis des Autors, der dann wohl doch ein wenig Distanz zwischen sich und seine Erzählfigur bringen wollte.