In der Weltwirtschaftskrise hatte der französische Regierungschef Édouard Daladier 1934 festgestellt: „Deux cents familles sont maîtresses de l’économie française et, en fait, de la politique française. […] L’influence des deux cents familles pèse sur le système fiscal, sur les transports, sur le crédit. Les deux cents familles placent au pouvoir leurs délégués. Elles interviennent sur l’opinion publique, car elles contrôlent la presse.“
Luxemburg ist nun einmal kleiner als Frankreich. Deshalb waren es laut Josiane Weber ein halbes Dutzend Familien hierzulande, „hauptsächlich die Familien Pescatore, Metz, Collart, Boch, Servais und Godchaux, die als mächtige Wirtschaftsdynastien über mehrere Generationen hinweg mit ihren Söhnen, Enkeln, Neffen, Schwiegersöhnen, Ehefrauen und Töchtern die ökonomische Entwicklung auf entscheidende Art und Weise bestimmten“ (S. 320).
In Familien der Oberschicht in Luxemburg über die soziale und biologische Reproduktion der herrschenden Klasse im späten 19. Jahrhundert untersucht Josiane Weber, wie diese sechs Familien und einige andere standesgemäß ihr Leben damit verbrachten, ihr Vermögen und ihre Macht zu mehren und zu vererben. Sie beschränkt sich nicht auf das Großbürgertum, aber es nimmt im Vergleich zu Regierungsmitgliedern und Beamten aus dem verbürgerlichten Adel oder dem Kleinbürgertum zu Recht den meisten Platz ihrer Studie ein.
„Die Begründer der großen Unternehmerdynastien […] konnten auf das Kapital und den Grundbesitz ihrer Eltern und Großeltern zurückgreifen, um ihre Unternehmen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufzubauen“ (S. 329). Ihre Machtblüte erreichten sie danach in der industriellen Revolution mit der Gründung von Banken, Eisenbahngesellschaften und schließlich der Verarbeitung der Minette. Sie besaßen und leiteten ihre Unternehmen, welche meist die Form von Aktienkommanditgesellschaften hatten, „um dem Familienkapital Schutz zu bieten“ vor der Einflussnahme von Fremdkapital auf die Betriebsführung (S. 339).
Josiane Weber, die auf die Familienarchive der Roebé, Servais, Vannerus, Collart und de la Fontaine zurückgreifen konnte, leistet auf weiten Strecken Pionierarbeit. Denn es gibt bisher kaum soziologische oder historische Studien einzelner Klassen; die Luxemburger Gesellschaft wird bis heute lieber als große und harmonische Volksfamilie dargestellt. Vielleicht ist die Autorin der Erklärung dieses Forschungsmangels auf der Spur, wenn sie vorrechnet, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Reicher 100 Mal mehr als ein Arbeiter verdiente, die Reichsten, die Pescatore, sogar 200 Mal mehr. Damit war „die Schere der Einkommensverteilung in Luxemburg im Vergleich zu anderen Staaten extrem“ (S. 388).
Für den Luxemburger Kapitalismus des 19. Jahrhunderts typisch war „die starke familiäre Verflechtung, die auf gewachsenen verwandtschaftlichen Beziehungen auf einer konsequenten Heiratspolitik und auf Kinderreichtum beruhte“ (S. 339). In dieser Optik untersucht Josiane Weber, wie das Großbürgertum seine Herrschaft wahrte und vererbte. Angefangen bei der Erziehung der Jungen, die am Kolléisch, in Internaten und Universitäten ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle einübten, aber auch der Mädchen, die in ausländischen Pensionaten auf ihre Schlüsselpositionen für den Zusammenhalt der Familien und als Witwen für die Leitung der Familienunternehmen vorbereitet wurden.
Damit das Geld und die Macht in der Familie blieben, sollten Eheschließungen strategisch nützlich sein; sie wurden deshalb „nicht als Privatsache zweier Menschen behandelt (S. 254), sondern von der Familie gesteuert oder gar diktiert. Das Bürgerliche Gesetzbuch und notariell beglaubigte Eheverträge regelten die Vermögensverhältnisse der Paare in allen Lebenslagen. Detailreich befasst sich Josiane Weber mit dem Lebensstil des Großbürgertums, seinen heute meist zu öffentliche Bauten umfunktionierten Schlössern und Villen, seinen Dienstboten, Empfängen, Jagden, Kulturvereinen, Kuraufenthalten und Bildungsreisen.
Die anonymen Aktiengesellschaft mit dem gewaltigen Kapitalbedarf der Schwerindustrie und das allgemeine Wahlrecht waren zu Beginn des 20. Jahrhundert der mächtigste Angriff auf die ökonomische und politische Macht der großbürgerlichen Familien. Doch „in den meisten Fällen konnten Unternehmerdynastien ihre Macht auch in den Aktiengesellschaften konsolidieren“ (S. 354). Das politische Alltagsgeschäft übernahmen dagegen bis heute Anwälte, Beamte und andere Kleinbürger.
Josiane Webers Buch beruht auf ihrer in Trier vorgelegten Doktorarbeit und ist deshalb nicht ganz frei von schwammigem Soziologendeutsch. Für die Veröffentlichung hat die Autorin den Text mit Hunderten von Privataufnahmen und anderen historischen Fotos illustriert, bis nun ein großformatiges und großartiges Album vorliegt, das sich leider nur Angehörige der Oberschicht leisten können.