Als am Montag Regierung, Unternehmer und Gewerkschafter in der Handelskammer auf dem Kirchberg zusammenkamen, um das finanz- und wirtschaftspolitische Programm des Europäischen Semesters abzuarbeiten, machte sich in Athen der neue Premierminister zu seiner Vereidigung auf. Ein Tag zuvor war in Griechenland eine Partei gewählt worden, die versprochen hatte, die innere Abwertung zu beenden, welche die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds dem Land zum Preis der Massenverelendung verordnet hatten. Zur europäischen Währungsgeschichte gehört nun auch, dass das Wahlergebnis der Syriza zu den besten gehört, die je eine Partei links von der Sozialdemokratie in Europa erzielte, nur zu vergleichen mit dem Ergebnis der Kommunistischen Partei Italiens 1976, das zwei Jahre später blutig korrigiert wurde.
Am Mittwoch, als Finanzminister Yanis Varoufakis, die Athener Börse und Standard and Poor‘s bereits in Gefechtsaufstellung gingen, meinte Premier Xavier Bettel kühl, dass er Premier Alexis Tsipras nicht kenne, aber bei dem nächsten EU-Gipfel kennenlernen werde. Bei allen anderen Politikern in der Europäischen Union „freut“ er sich immer schon, „ihre Bekanntschaft zu machen“. Der Regierungschef, der gerade in Davos für den derzeit schlecht angesehenen Finanzplatz warb, erwartet sich nicht viel Gutes vom erklärten Gegner einer Politik, die, auch im Interesse des hiesigen Bankenplatzes, während der Schuldenkrise erst einmal lieber die Banken als die Griechen rettete. Und der nun eine Atempause bei der Rückzahlung der horrenden Staatsschuld aushandeln will.
Erstmals will in der Euro-Zone eine Regierung den Konflikt zwischen „Strukturreformen“ und „Wirtschaftspopulismus“, wie die beiden Umverteilungsoptionen offiziell heißen, nicht von vornherein zugunsten Ersterer entscheiden. Erstmals in der Euro-Zone verspricht eine Regierung, im Zweifelsfall nicht „den Märkten“, sondern den Wählern rechenschaftspflichtig zu sein. Das hört sich weiter nördlich abenteuerlich an. Aber die griechischen Wähler haben nicht mehr viel zu verlieren.
So viel demokratische Hybris, so viel Primat des Politischen über die Wirtschaft wird selbstverständlich zuerst als Ketzerei linksradikaler Wirrköpfe gegen die als Naturgesetze angesehenen Marktgesetze gewertet. Aber wie ungerecht der ökonomische Sachverstand verteilt ist, zeigen auch die Berechnungen des Internationalen Währungsfonds vor fünf Jahren über die Auswirkungen der inneren Abwertung in Griechenland, die beständigen europaweiten Warnungen der Experten vor der Inflation in einem nun von der Deflation bedrohten Wirtschaftsraum und der augenblickliche Streit in der Europäischen Zentralbank über den Ankauf von Staatsanleihen.
Vielmehr geht es auch um die Frage, wie viel von Technokraten schon sicherheitshalber als Populismus verächtlich gemachte Demokratie in der Euro-Zone überhaupt noch möglich ist, mit Parteien, Wahlen, Parlamenten und allem, was man so gewohnt war. Nicht mehr ganz viel, lautete die Antwort, seit das Parlament am Krautmarkt Mitte Mai vergangenen Jahres mit einer strammen sowjetischen Mehrheit von 55 gegen fünf Stimmen das Gesetz über eine Defizitbremse, ein mittelfristiges Haushaltsziel und einen Korrekturautomatismus verabschiedete– so wie sie im europäischen Stabilitätspakt von 2012 vorgesehen sind, um nach der Schuldenkrise Austeritätspolitik europaweit zu institutionalisieren. Vielleicht wird der Ausgang des wahnwitzigen Experiments in Athen rechtzeitig vor der geplanten Verfassungsrevision zeigen, ob auch hierzulande Wahlen künftig überhaupt noch nötig sind oder gar der Wettbewerbsfähigkeit schaden.